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Das Leben ist lebenswert
„Wie alt schätzen Sie mich? Sagen Sie mal!“ „70.“ „Nein! Ich bin 86! Keine Medikamente, keine Therapien, fühle mich topfit.“ So komme ich ins Gespräch mit der Dame, die auf der Bank neben mir vor der Kaiservilla sitzt. Mit ihrem geblümten rosa-hellgrünen Kleid mit Puffärmeln fällt sie sofort ins Auge. Ich mache ihr ein Kompliment. Sie bedankt sich strahlend und nimmt ihre Sonnenbrille ab. Ich hingegen blinzle gegen die Sonne, da ich meine vor ein paar Wochen in Sevilla verloren habe, das macht mir aber nichts aus, ich genieße es. Dann erzählt sie mir, dass sie auf ihre Familie warte, ist aber als Erste losgegangen, um sich von alldem Vorbereitungsstress…
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Ungeplante Geschichte
An alle, die ihren Glauben irgendwo da auf der Strecke verloren haben. Menschen sprechen zu mir, ich hören ihnen zu. Wahrscheinlich bin ich eine ziemlich gute Zuhörerin, denn das passiert immer wieder. Menschen vertrauen mir ihre Geschichten an. Gestern etwa saß ein schätzungsweise über 60-jähriger Mann neben mir. Die Augen – rund herum von einem feinen Fältchennetz umrandet –, Mundwinkel traurig herabhängend. Das Jugendliche an ihm war der sorgfältig schwarz gefärbte Moustache, der kämpferisch und frech über der Oberlippe hervorstach, als ob er stellvertretend für seinen in sich zusammengesunkenen Besitzer der ganzen Welt mitteilen wollte: Es gibt mich noch! Da bin ich! Es stimmt schon, dass ein Schnurbart von der…
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Spiele mir etwas vor
Spiele, spiele mir etwas vor auf deinem Piano, die schlummernden Noten mach munter, lass sie über die Schulter hinunter rinnen andante, volcano! Spiele, erwärme sie kurz in den Händen, lass sie die Finger berühren, lass die Noten die Tasten mal spüren, und die Akkorde umwenden. Spiele nun! Weder Noten aufheben geht, noch Noten ersetzen, da vom ersten Akkord bis zum letzten tanzen zwei menschliche Leben. Views: 33
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Zwei Kilo Zeit, bitte!
Meine Liebe, zwei Kilo Zeit will ich! Glück in Sicht! Kaufe Zeit! Schneiden Sie mir bitte zwei Kilo Zeit ab, zahle bar! Mit dem schärfsten Messer! Von der teuren Zeit! Scheißegal dieser Preis, es ist wahr, dass ich von der kostbarsten Zeit haben will, damit wir ohne überflüssige Worte, ganz still sitzen ohne „Wie lange?“ und „Wann?“, und unsere Stille zu Wort kommen kann. Damit die Zeit, tragend deinen Namen, meine Zeit setzt in leuchtenden Rahmen, und ich neben dir auch dieses Mal zahle pro Kilo für Stille real. Netto. Für zwei Verse Leben, für zwei Herzgeschichten zahle die Summe, für unsere Stille, für zeitloses Schweben. Und möge die Stille…