Di. Apr 30th, 2024

Das sind ihre Hände. Diese Hände können Hilfe anbieten oder gar Menschenleben retten. Die Hände einer Ärztin.

Sie kenne ich seit länger als einem Jahr schon, und Ihr werdet Euch höchstwahrscheinlich wundern, wie man jemand kennen kann, ohne diese Person irgendwann getroffen zu haben. Oh ja, da kann man sehr wohl! Denn manchmal verbindet Menschen mehr als das Offensichtliche, sie werden auf eine mysteriöse Weise zusammengeführt über die Telefonleitung – den Klang der Stimme, die gemeinsam geteilten Gedanken, die ähnliche Weltwahrnehmung, die Gefühlslage –, sodass die reale Distanz plötzlich auf das Minimalste reduziert wird. Und jetzt, wo wir uns endlich umarmen konnten, bestätigt sich mein Vorgefühl: sie kann nicht nur Menschen, sondern auch Seelen retten.

Das Leben hat sie so modelliert, wie sie jetzt eben ist. Es hat sie von dem Schein und der Eitelkeit der ein luxuriöses Leben führenden und in Selbstvergessenheit geratenen Oberschicht auf Lichtjahre entfernt. „Haben oder sein?“, würde hier Fromm die Essenz einer Lebensauffassung auf den Punk bringen. „Sein“, würde sie antworten. Denn angesichts des pulsierenden Schmerzens, der ins Bodenlose gehenden Verzweiflung, der unheilbaren Krankheit oder gar des Todes fällt einem gar nicht schwer, die Frage eindeutig zu beantworten. Und vor allem einem, der schon viel zu viel davon gesehen hat und selbst in all diesen Lebensleidensgeschichten mit involviert war. Patienten schauen sie mit Hoffnung in den Augen, als ob sie Gott wäre. Sie verstehen nur eines nicht: dass die Medizin ihre Grenzen, ihr Limit hat. „Da, wo die Grenzen der Medizin erreicht sind, setzt das Schicksal ein“, fügt sie hinzu.

Letzte Woche soll sich ein Passant gerade an ihr Auto gelehnt haben, vor Schmerz laut schreiend. Gerade sie bat ihn in ihr Auto hinein, um ihn dann bis zum Spital zu fahren. Nachdem er sich heftig geweigert hatte, etwaige Hilfe anzunehmen, hätte sie ihm ein Taxi gerufen. Eine Stunde später wurde er tot auf der Straße gefunden. Und es stellte sich heraus, dass ihn alle im Grätzel schon gut gekannt hatten, nur sie nicht, doch keiner seiner „Freunde“ wollte ihm helfen, alle hatten ihn in seinem Leid still von der Seite her beobachtet. Hm. Mit dem Konzept „Freundschaft“ muss man heutzutage mit höchster Vorsicht umgehen, denke ich mir.

Trotz der Sackgassen und der Hindernisse in ihrem Leben, schlägt sie sich als Ärztin in Wien durch und glaubt nach wie vor, dass gerade der Glaube das ist, was uns retten würde: dass man dem Fluss des Lebens vertrauen sollte – nachdem man alles Mögliche versucht hat –, ohne zu vergessen, dass alles, wirklich alles im Leben nicht mehr und nicht weniger als eine Art Prüfung angesehen werden soll; dass Freud und Leid, Leid und Freud sich in einem ständigen Wettlauf abwechseln; dass die Hoffnung nie sterben darf, unabhängig davon, wie schwer gerade die Lage ist; dass wir vor uns selbst verpflichtet sind, das Beste für uns zu tun, da das Leben kostbar ist, wir vergessen es einfach manchmal… Und sie weiß ja sehr gut als Ärztin, dass das allererste Gespräch mit dem Patienten das entscheidende ist, da nicht jedes Leid unbedingt eine körperliche Krankheit voraussetzt, und viele glauben einfach daran, erkrankt zu haben, auch wenn der Schmerz ganz anderer Natur sei – ein seelischer nämlich.

Wir verabschieden uns mit einer Umarmung. Ihr Glaube ist ansteckend, genauso wie das gegenseitige Vertrauen, das uns verbindet. Auf dem Weg nach Hause denke ich mir immer wieder: Da, wo die Grenzen unserer Möglichkeiten erreicht sind, genau da setzt das Schicksal ein.

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