Und so bin ich an dem Punkt angelangt, wo ich mir nichts, wirklich nichts mehr wünschte. Andersrum: es war auch nichts mehr so, wie erwünscht. Weder Beförderung, noch die schon 20 Jahre alte Hoffnung auf Gehaltserhöhung, noch der Gedanke an glänzende Auftritte vor interessiertem Publikum konnten mich nun mehr begeistern. Nicht mal jener teure Gürtel von Cucinelli ließ mein Herz aufflammen, verdammt! Und schon die Vorstellung wissenschaftlicher Betätigung widerte mich an, ja, mich, wo ich sonst so gerne schreibe.
War ich älter geworden? Noch schlimmer: eine Reisende auf dem Weg zum Endgültigen ins Jenseits? Das etwas gewaltig mit mir nicht stimmte, war doch klar. Außerdem gab es noch einen wichtigen Grund für Sorge, der den faden Beigeschmack einer unklaren Zukunft nur noch zu verstärken schien: mein Lebensbild wies schon ziemlich große, unüberwindbare Unterschiede auf im Vergleich zum Bild meiner Psychologin, das eh das „richtige“ bzw. das „funktionierende“ sein sollte: „So ist halt das Leben, die einfachen Sachen sollten uns Freude bereiten, und nicht die Höhenflüge. Etwa mit Freundinnen fortgehen oder mal wieder in die Hauptstadt fahren, um sich was Schönes zu leisten!“ Es wurde mir schlecht. Einfach übel. Wieso sollte mir Einkaufen Freude machen? Und wozu Sachen kaufen, wenn ich schon meine verschenke und im Klaren bin, dass ich nicht mehr als einen Koffer brauche? Und wieso sollten es immer die einfachen Sachen sein? Und wie konnte sie wissen, was für mich einfach und was komplex war? Sollten die materiellen Dinge mehr Freude bereiten als die immateriellen? Meine Verwirrung war voll und die Diagnose lag eindeutig vor: ich war hoffnungslos krank.
Dann kam es zu der nächsten Enttäuschung: ich musste feststellen, dass ich gar nicht so gut bin. Weder gut noch brav. Wahrscheinlich war ich noch nie gut oder brav, ich war nichts davon, was man sich von mir erwartete, und alles, was zum Tragen kam, nur einer Vorstellung von dem ähnelte, was ich hätte sein müssen. Die neueste Erkenntnis also, dass meine dunkle Seite am Werk war, führte bald zu einer lawinenartigen Aktion, in der, eine nach der anderen, Schattenseiten meines Charakters – jede dunkler als die andere – zur Schau getragen wurden. Der Trend ins Bodenlose kündigte sich schon beim ersten Treffen mit meiner Psychologin an – vielleicht habe ich auch das Bodenlose immer in mir getragen, weiß ich ja selber nicht mehr –, während dessen ich erklärt hatte, ganz zu Beginn des Gesprächs, dass ich Ratschläge nur von Menschen akzeptiere, die entweder weiser sind als ich oder als Profis auf ihrem Fachgebiet gelten, was sie in einen Schock-ähnlichen Zustand versetzte oder zumindest fühlte es sich auf den ersten Blick so an, als ob ich an einer Filmszene teilnahm: Die Pupillen weiteten sich, ihr Atem geriet ins Stocken und der Wortfluss verstummte. Ich hatte aber, ehrlich gesagt, echt keine Zeit mehr, um sie mit leerem Gerede zu vergeuden und wollte uns beiden kostbare Minuten ersparen. Und was passierte stattdessen? Nicht nur, dass ich krank war, ich machte auch andere krank!
Was ich ihr dann erzählte, hatte einen noch beeindruckenderen Effekt auf sie, sodass ich irgendwann um ihre Gesundheit echt besorgt war: „Wie kann aber das nur denn sein? Was erzählen Sie mir überhaupt? Wie ist Ihnen überhaupt eingefallen, ohne sichere Einkünfte und einen festen Arbeitsplatz zu haben, das Land zu verlassen?“ Ganz zu meinen Ungunsten hat mich diese unendliche Tirade, wenn sie doch dann irgendwann zu Ende war, zu den verantwortungslosen hysterischen Persönlichkeiten zugeordnet. Na, bravo! Möge Fritz Riemann Erbarmen mit ihr haben und ihr diesen geistigen Ohnmachtsanfall verzeihen!
Von nun an folgten unsere Treffen immer demselben Sujet: „Entscheiden Sie sich! Sie müssen sich entscheiden! Entscheiden Sie sich, sonst werden Sie krank, schnell!“, klammerte sie gnadenlos an ihren Grundgedanken und hoffte, sich in die Rolle des Baumeisters eingelebt, diesen so tollen Einfall, dass ich mich sofort entscheiden musste, auf den ich in ihren Augen allein wohl nie gekommen wäre, mit dem Mörtelbrett bald in meinem Bewusstsein betonieren zu können. „Glauben Sie, ich wäre zu Ihnen gekommen, wenn das so leicht wäre???“, schrie ich ihr daraufhin ins Gesicht.
Da ich offenbar eine harte Nuss war, schien unsere Therapie keinen einzigen Schritt nach vorne zu verzeichnen. Alles umsonst. Keine Auflösung. Ich fühlte mich definitiv nicht gestärkt, aber auch sie schien immer schwächer zu werden. Bis auf den Tag, als ich plötzlich eine andere Antwort für sie hatte: „Ok, nehmen wir an, dass ich mich für die vernünftige Variante entscheide, da möchte ich Sie gerne sehen, ja, SIE, ob sie auf der ganzen Welt jem. finden würden, der fähig wäre, einen Menschen zu therapieren, der seinen Traum aufgegeben hat! Das möchte ich gerne sehen!“ Diese Antwort traf sie völlig unvorbereitet. Eine Weile lang saßen wir da noch schweigend und zum ersten Mal gleichgestellt: ich wusste nicht mehr weiter und sie wusste nicht mehr weiter. Zum ersten Mal waren die Kräfte im Gleichgewicht und ich konnte mich ohne keinerlei Gewissensbisse von ihr verabschieden.
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