Mi. Apr 24th, 2024

Ich weiß immer noch ganz genau wo die drei Bände von Stanislawski in meiner Bibliothek stehen, ich kann nach wie vor jeden Moment den Geruch von altem Papier wachrufen und somit auch die Aufregung, die ich beim Umblättern spüre. Eine Seite, zwei Seiten, drei… Und schon betrete ich eine andere Welt, in der das Unmögliche draußen vor der Tür bleibt. Denn hier ist alles möglich. Auf einmal wird die Begrenztheit des Daseins überwunden. Es hat sich also nichts verändert. Die Erinnerung ist da, farbig-duftend, plastisch, grell leuchtend, der Augenblick, als ich dieses kostbare Geschenk bekam, flattert wie Schmetterling in der Luft, und… er. Als ob er immer da gewesen wäre.

An einem warmen Märzabend sitze ich unter den Zuschauern im vollen Theatersaal des Puppentheaters in Russe. Wie war es dazu gekommen? Keine Ahnung. Der frische Märzwind soll mich dahin geweht haben. Die Bäume treiben schüchtern Knospen. Ein sanfter Duft breitet sich Richtung Donau aus. Das Gebäude befindet sich nicht weit von dem ruhig fließenden Fluss entfernt, der sich, wie ich erst Jahre später feststelle, in Menschen verfängt, die Menschen verfangen sich ihrerseits in Zeiten, die Zeiten in Erinnerungen, und die Erinnerungen wiederum in Menschengeschichten, sodass ein unübersehbares Netz aus Endlosigkeit entsteht, das von Russe über Wien hinaus bis nach Passau hinüber reicht. Verhängnisvoll. Damals ahne ich es allerdings immer noch nicht. Das, was ich zu jenem Zeitpunkt weiß, ist, dass dieses Donaublaue wie ein Magnet auf mich wirkt.

An jenem Abend spielt eine junge Pantomimetruppe. Erschütternd! Die Handlung, die die sichtbaren Grenzen des Raums bald verlässt, die begabten jungen Menschen auf der Bühne, die mit der Sprache des Körpers Geschichten fabulieren, er. Nicht länger als eine Stunde ist vergangen, und die Entscheidung steht schon fest. Es geht um eine jener Fragen, bei denen es kein Zurück gibt. Es ist nämlich eine Frage auf Leben und Tod. Was ich will, ist um jeden Preis ein Teil vom Wunder, genannt Theater, zu werden. Also warte ich ruhig ab, dass auch der letzte Zuschauer sich verabschiedet und den Raum verlässt und nähere mich langsamen Schrittes auf die Bühne zu, stelle mich kurz vor und bringe es gleich direkt auf den Punkt, so ist es halt mit den Fragen auf Leben und Tod: „Ich will eine von Euch sein!“, kündige ich an. „Was kannst du?“, fragt er. Ich, die erfahrene Gymnastikerin, denke einen Moment lang nach. Da leuchtet es mir plötzlich ein, wo meine verborgenen Talente wohl hätten liegen können und packe die Sache professionell an: „Spagat! Ich kann Spagat!“, rufe ich aus und gleite sofort in den Spagat. Er lacht.

So beginnt mein Treffen mit dem Theater und dem Menschen, der mich beinahe adoptierte. „Adoptiert“ von ihm waren fast alle anderen Kinder in der Truppe. Fast alle von uns waren entweder nur mit dem einen Elternteil aufgewachsen oder kamen aus schwierigen Verhältnissen. Und alle brauchten wahnsinnig einen Vater.

Ich bin 16. Die wöchentlichen Pantomime-Proben fangen an. Es beginnt ein Leben voller Elektrizität, das von einem unsichtbaren Motor vorangetrieben wird, in dem allem einen tieferen Sinn eingehaucht wird. Und er. Eine markante Persönlichkeit, die man nie aus dem Gedächtnis verlieren kann – Yordan de Meo. Ich probe. Fleißig. Mit Leidenschaft. Dann folgt der Bühnenauftritt unter dem Licht der Scheinwerfer. Ich lerne Maria Luisa, die Schwester von Simeon Sakskoburggotski kennen. Er schenkt mir die Platte von Kenny Rogers. Ich verliebe mich in die Songs. Bald danach beginne ich regelmäßig seine Mutter, eine gebürtige Deutsche, zu besuchen, um mit ihr mein Deutsch zu üben. Wir sprechen. Wir sprechen über „Vom Winde verweht“. Ich lasse mich vom Wind verwehen. Modeschau. Ich nehme an einem Casting für eine Modeschau teil.

Die Schulzeit ist zu Ende und er stellt die Frage aller Fragen: „Willst du nicht Schauspiel studieren?“ Ich glaube nicht. Eine Nichtgläubige. Oder ich glaube zu wenig, dass es möglich wäre und bestehe stur auf die Fremdsprachen, als ob ich bei der Geburt verflucht worden wäre, mein Leben einzig und alleine mit den Sprachen in Verbindung zu setzen. Andere von meiner Pantomimetruppe aber, etwa Simeon Lytakov, haben mehr Glauben. Oder zumindest genug, um später erfolgreiche Schauspieler zu werden.

Jahre danach treffe ich ihn von Neuem. Diesmal in Sofia. Er lacht genauso wie einst, glaubt, dass ich nicht an die Uni hingehöre. Prophet.

Und endlich mache mich auf den Weg nach Wien. Nein, nicht über die Donau. Ich nehme den schwereren Weg, der mir in kurzer Zeit über 160 Stempel in meinem Pass sichert für Grenzen, die zu überqueren waren. Nach fünf dort verbrachten Monaten fangen die ersten Zweifel an. Gibt es für mich einen Rückweg? Ich muss jedoch zurück, um ihn anzurufen. Die Weihnachtsfeiertage vergehen. Ich nehme den Hörer in die Hand und dann verstehe ich auf einmal, dass ich zu spät bin. Ein nie zustande gekommenes Gespräch bleibt in der rechten Herzenskammer und wird ewig herumgeschleppt.

Später treffe ich völlig unerwartet für mich seine Tochter Mariana in Wien!  Und somit taucht er wieder in der Erinnerung auf, als ob er immer da gewesen wäre. Seltsam, wie sich diese roten Fäden in meinem Leben durchkreuzen, ähnlich all jenen mir am Herzen liegenden Menschen, ohne die ich nicht das wäre, was ich jetzt bin.

Ich höre Kenny Rogers. Neben mir sitzt Stanislawski. Ins Unausgesprochene lausche ich hinein, dem Offensichtlichen hingegen drehe ich den Rücken und verstehe nun besser denn je: Mein Leben ist eine Bühne voller Elektrizität, die von einem unsichtbaren geistigen Motor vorangetrieben wird, der jeder Sache einen tieferen Sinn verleiht, wohl oder übel. So war es schon immer und so wird es sein. Nichts hat sich verändert. Verlangt bitte also nicht von mir, in einem fremden Theaterstück zu spielen. Und, übrigens, die Arbeit des Schauspielers an sich selbst geht weiter.

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