Do. Nov 21st, 2024

Vom 13.01.2024 bis 20.01.2024 hat aktionstheater ensemble

das Österreich-Bild im Theater am Werk in Wien infrage gestellt und somit die gegenwärtige Debatte um „die Normalität“ in den Vordergrund gerückt.
Die Erstaufführung „Alles normal“ – irrwitzig, berührend, zutiefst erschütternd –  bietet wertvolle Einblicke in ein „ganz normales Österreich“.
„Alles Normal“. Ein Salon d’amour Stück. Uraufführung von Martin Gruber und aktionstheater ensemble.
In Kooperation mit Spielboden Dornbirn und Theater am Werk.

Wenn jemand ein fehlerloses, feines Gespür für die Absurditäten um uns herum hat, dann der Regisseur Martin Gruber und seine vielgekrönte Theatertruppe aktionstheater ensemble. Bei keiner anderen Theatertruppe ist die subversive Funktion der Kunst als gesellschaftlichen Barometers so intensiv, so eindrucksvoll zu spüren. Die Lenkung unseren Blicks auf die Wundstellen der Gesellschaft – die Konfrontation mit dem Verstellten, Unechten, mit der Schein-Welt – erfolgt auf der Bühne dermaßen wirkungsvoll, provokant und witzig, beginnend beim eigenen Selbst, dass uns die Begegnungen mit aktionstheater ensemble in Wien jedes Mal ein bisschen näher an einen bewussteren Umgang mit der Realität, in der wir leben, bringen. Nie verlassen wir den Saal so, wie wir ihn anfangs betreten haben. Jedes Mal nehmen wir ein bisschen mehr von einem tieferen Verständnis mit, wo wir sind, was eigentlich los ist, wohin uns der Narzissmus treibt, warum unser Demokratieverständnis versagt… Und wenn die Versuche danach, auch draußen nach diesem Mehr, das uns das Aktionstheater anbietet, zu suchen, oft scheitern, dann weil wir uns von der Kunst, aber auch von uns selbst nämlich genau das erwarten – ein Mehr. Wir suchen nach dem Mehr. Nach mehr Möglichkeiten, zu intervenieren, nach dem Mut, unsere Demokratie zu verteidigen, nach unseren Mitmenschen, nach Gleichgesinnten. In einem Gespräch nach der Aufführung am letzten Spieltag erzählte mir der Regisseur Martin Gruber, wie viele Menschen sich bei ihm und der Theatertruppe bedankt haben, dass sie sich nicht mehr allein fühlen.

Dieses Mal versetzt uns aktionstheater ensemble in die angenehme Ambiente-Atmosphäre des Salon D’Amour: Auf der Bühne sind runde Tische aufgestellt, das Publikum wird mit Schnaps von den Darstellerinnen bewirtet, und im Hintergrund links spielt das Salon-Orchester. Von den Projektionsflächen um die Bühne herum blicken die Heimatberge.

Das Unterhaltungsprogramm, das von Babett in der Rolle der Moderatorin als „knisternd erotisch“ und „peinlich asozial“ angekündigt wird, wirft die Frage auf, wie wir mit den großen Umwälzungen auf der politischen Bühne umgehen, die uns bevorstehen – den Wahlen im Herbst. Neben „Mut und Zuversicht“ ist angesichts der Perspektive auf ein 4. Reich noch die Rückbesinnung auf „das Gute und Schöne“ gefragt. Wie das genau zu verwirklichen wäre?

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„Glaub an dich!“

Ganz normal, in dem man sich wie Isabella „befreit“! D.h. sich von den schlechten Nachrichten abwendet und auf die eigene Schönheit voll konzentriert. Da dürfen auch Momente der Selbstverherrlichung und -verliebtheit sowie Beweise für die eigene Perfektion – Selfies! – nicht fehlen. Ganz wichtig bei diesem mühevollen Unterfangen scheint die Seelenarbeit zu sein, die zu leisten ist: Sie ist auf das Schließen von Lücken in der Aura gerichtet. Selbstverständlich, indem man den Schritt ins Esoterische wagt! Profitipps in dieser Hinsicht hätte Thomas parat: Mit Bergkristallen und Alumatten unter dem Bett könnte man schon einige Mängel auch auf der Seelenebene ausloten. „Glaub an dich!“ ist die Parole, die uns von den Projektionsflächen erreicht.

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„Erleben, was verbindet.“

Michaela richtet den Blick auf ihre zahlreichen Talente und somit – auf das verbindende Gemeinschaftsgefühl. In vielen Sachen ist sie gut, am besten punktet sie aber, wenn sie sie ganz alleine bewältigt. Als Kellnerin, Deutschlehrerin, Schauspielerin, beim Spielen von Computerspielen etc. verzeichnet sie „lauter Rekorde“. Dabei lernt sie so vieles! Soft Skills wie richtige Kommunikation oder wie ein Team richtig funktionieren sollte, das erlebt sie vor allem in Computerspielen: „Overcooked!“ spielt sie etwa am liebsten allein, nur dann ist sie immer unschlagbar und kann die maximale Punktzahl erreichen.

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“We love to entertain you.”

Mit dem Gedicht „Es ist normal…“ führt Elias Hirschl die brutale, paradoxe, inhumane Seite der vorgegaukelten traditionsverbundenen und daher nie infrage gestellten „Normalität“ ein. Die von ihm im Laufe des Abends vorgetragenen Texte gehen einem unter die Haut, rütteln wach. Unter der Wirkungskraft dieser direkten, sich gradierenden Konfrontation mit dem gesprochenen Wort wird das sich bis vor Kurzem vor Lachen zerkugelnde Publikum auf einmal ganz still. Eine ganze Österreich-Landschaft – von der blutigen Schweineschlacht über die gekochten Leberknödel, die rechts oder links vorne gebundenen Dirndlschürzen mit ihrer eindeutigen Botschaft bis hin zum frommen Gebet vor dem Essen, wenn das Schwein aufgetischt wird – breitet sich vor uns aus. „Es ist normal…“, donnert Elias Stimme im Saal. „Es ist normal, wenn das Kind etwas abgehärtet wird…“, schneidet er die Stille durch. „Es ist normal, nicht mehr geliebt zu werden“, klingt es im Publikum nach…

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„Je konservativer die Gesellschaft, desto größer die Brüste.“

Bei der Diskussionsrunde, die sich als Nächstes um die Größe von Thomas‘ „Zipferl“ herum entfacht und in eine allgemeine Diskussion über die Größe der weiblichen Brüste und des männlichen Attributs als Maßstäbe für die österreichische Gesellschaft übergeht, kann das Publikum sein Lachen kaum unterdrücken. Ein interessanter Einfall bringt Tamara ein: Die Penisgröße mit Euro-Münzen zu messen! Es folgt eine Abstimmung seitens des Publikums. Mit Hoch- bzw. Tiefsummen wird über die Normalität von Thomas‘ Penisgröße entschieden. Wie im Parlament, mit der österreichischen Flagge in der Hand – da es ja um Österreich-relevante Themen von äußerster Priorität geht.

Auch den Klimawandel wird von Zeynep angesprochen, kurz und nur beiläufig, denn das ist ja „wurscht, egal jetzt“. Das Interesse der Gesellschaft gilt offenbar anderen Themen.

„Wenn du kein Österreicher, nicht normal.“

Beim Gedichtevortragen hebt das von Tamara präsentierte Gedicht die unterschiedliche Herkunft als Maßstab für Normalität bzw. für die Teilung der Gesellschaft in normal / nicht normal hervor. Somit zeigt sie uns einen der gängigsten Wege für Entstehung von Vorurteilen auf. Und wie bei allen vorurteilhaften Einschätzungen wird auch hier mit zweierlei Maß gemessen. Normal ist das Übliche, das Einheimische, das Bekannte, dafür findet man immer eine Rechtfertigung. Der Rest gilt als fremd und daher nicht normal: „Wenn du kein Österreicher, nicht normal.“ Tamara lässt während dieser Aufführung ihre eindrucksvolle Stimme öfter als Sängerin hinter dem Mikro erklingen. Ihr Gedankengang wird von Zeynep aufgenommen und weitergetragen: „Ewig Pole sein. Ewig Polin sein…“ Dabei begegnet uns von den Projektionsflächen um die Bühne herum den Namen Herbert K… im Vorbeilaufen.

Der Abend, musikalisch von dem großartigen Orchester unterlegt, klingt nach:

 „Take this waltz […],  this waltz, this waltz,

with it’s very own breath of brandy and death […],

and I’ll dance with you in Vienna…“

Ein großes Lob gilt auch den fantastischen Darsteller:innen, die die Schauspielkunst auch dieses Mal in eine neue Dimension gebracht haben, dem Regisseur Martin Gruber für die Tiefe der Auseinandersetzung mit dem Thema sowie dem Dramaturgen Martin Ojster für seinen besonderen Blick und das feinen Gespür fürs Detail.

Wir, das treue Publikum, verlassen den Saal, innerlich durchfühlt, dankbar, für diese großartige Begegnung, die uns schon wieder eine Mutprobe gekostet hat, stellen schon jetzt neugierig die Frage, wann die nächste Prämiere kommt, und berechnen die Zeitspanne, die bis dahin zu überbrücken ist. Dieses Jahr feiert aktionstheater ensemble sein 35-jähriges Bestehen. Schon stolze 35 Jahre schwört es uns Treue, bleibt am Puls der Zeit und stellt für uns die unbequemen Fragen unserer Gegenwart. Es scheint doch nicht alles so hoffnungslos zu sein. Solange wir uns Fragen stellen, imstande sind, kritisch zu reflektieren und es auch wissen: Wir sind nicht allein. Wir sind nicht allein!

Konzept/Inszenierung: Martin Gruber | Text: Martin Gruber und aktionstheater ensemble sowie Elias Hirschl, Wolfgang Mörth u.a. | Dramaturgie: Martin Ojster | Regie-Assistenz: Manuela Schwärzler | Bühne/Kostüme: Valerie Lutz | Video: Resa Lut | Medienkontakt: Gerhard Breitwieser

Mit: Zeynep Alan, Babett Arens, Michaela Bilgeri, Monica Anna Cammerlander, Atanas Dinovsky Elias Hirschl, Isabella Jeschke, Thomas Kolle, Lisa Lurger, Daniela Neuhauser, Gidon Oechsner, Daniel Schober, Tamara Stern

Eure Neli P

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