Di. Okt 15th, 2024

Provoziert durch die heutige Begegnung mit Ihm.

Ich bin in einer gottlosen Gesellschaft aufgewachsen, in der Gott verboten war. Gott? So was gab es nicht, nur von den Lippen meiner Oma konnte man manchmal dieses seltsame Wort, leise und vorsichtig zugeflüstert, hören. Was sie allerdings damit meinte, blieb ein volles Rätsel. Die kleine Kirche, die mitten auf dem zentralen Platz stand, hatte für mich eine völlig plausible Geschichte: sie war ja nämlich die, an deren Kirchturm Baron von Münchhausen sein Pferd mitten in jenem heftigen Schneesturm gebunden haben soll. Jedes Mal, wenn ich an ihr vorbeiging, schaute ich nach oben zum Turm und dachte an Münchhausen. Eine andere Funktion der Kirche konnte ich mir gar nicht vorstellen. Außerdem ging keiner hinein, was meine Vermutungen für den Grund deren Existenz nur noch bekräftigte.

Nach der Wende öffnete die Kirche überraschenderweise ihre Türen für die Gläubigen. Waren aber solche geblieben? Den religiösen Glauben zurückerobern wurde bald zu einem Modetrend, bei dem man mehr auf ein Abenteurerlebnis infolge der Begegnung mit dem bis vor Kurzem Unzulässigen setzte, und weniger tief nach innen nach dem Sinn suchte. Das erste Mal, als ich die Kirche betrat, war zu Ostern. Das erste Ostern nach der Wende. Zur Mitternacht füllte sich die Kirche mit zuströmenden Menschenmengen von Neugierigen in Erwartung des Gottes, von dem manche schon mal gehört hatten, dicht aneinander gepresst, jeder mit einer angezündeten Kerze in der Hand. Ich bekam fast nichts zu Gesicht, außer den Rücken der in der vorderen Reihe Stehenden, und der Geruch, der sich bald durch den ganzen Innenraum ausbreitete, war nicht der nach Weihrauch, sondern nach gebranntem Haar.

Dem unbekannten Gott musste ich irgendwie eine Form verleihen. Aber wie? Sollte es jemand sein, vor dem man Ehrfurcht empfinden sollte? Oder jemanden, an den man, wenn es unerträglich wurde, seine Bitten richten sollte? Hm, daran war ich nicht gewohnt. Wenn ich bessere Noten in der Schule haben wollte etwa, lernte ich fleißiger und wendete meine Bitten an mich. Wenn etwas schiefging, hatte ich Angst vor der Reaktion meiner Mutter. Wohnte also dieser Gott mir oder meiner Mutter inne? Jedenfalls war er nicht etwas, was ich im Außen suchen konnte.

Ob ich heute als Erwachsene an den Gott glaube? An meinen Gott, den Gott in uns, vielleicht. An die grenzenlosen Möglichkeiten, an das Gute im Menschen, an die Liebe, an das Transzendentale, das uns miteinander verbindet, sodass wir uns in einem jeden wieder eindecken können.

Ob ich ihn schon mal gesehen habe? Oh ja, wenn ich am Strand sitze und die ruckartige Bewegung der Wogen beobachte, wenn es ganz schön stürmisch wird und mich der Wirbel dahin weiterträgt, wohin es mag,  wenn ich im April unter einem blühenden Marillenbaum liege, wenn ich draußen im Regen durch die Pfützen laufe, wenn ich von oben auf die Welt schaue,  während die ersten Schneeflocken unbesorgt um mich herum tanzen… Der Gott einer Nichtgläubigen hat kein Gesicht, kann in einer Kirche oder in einem Gebet nicht entdeckt werden, verträgt keine Ehrerbietung. Er ist die bodenlose Stille in einem jeden von uns.

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