An alle, die ihren Glauben irgendwo da auf der Strecke verloren haben.
Menschen sprechen zu mir, ich hören ihnen zu. Wahrscheinlich bin ich eine ziemlich gute Zuhörerin, denn das passiert immer wieder. Menschen vertrauen mir ihre Geschichten an.
Gestern etwa saß ein schätzungsweise über 60-jähriger Mann neben mir. Die Augen – rund herum von einem feinen Fältchennetz umrandet –, Mundwinkel traurig herabhängend. Das Jugendliche an ihm war der sorgfältig schwarz gefärbte Moustache, der kämpferisch und frech über der Oberlippe hervorstach, als ob er stellvertretend für seinen in sich zusammengesunkenen Besitzer der ganzen Welt mitteilen wollte: Es gibt mich noch! Da bin ich! Es stimmt schon, dass ein Schnurbart von der Masse abheben kann! Oder war es vielleicht das Jugendliche an ihm? Das Kind, das mir schalkhaft zuwinkt und nach dem ich bei jeder Begegnung suche?
Zuerst zeigte mir der Unbekannte eines nach dem anderen die schönen Bilder auf seinem Handy, die seine Frau einmal gemalt haben muss, als sie es noch konnte – von ihm als Dreißigjährigem, von ihrem Hund, von seinem Sohn, von einer Szene aus dem Musical „The Cats“. Denn nun ist sie demenzkrank und in einer Pflegeeinrichtung untergebracht. Der Aufenthalt da kostet 6000 monatlich, einen stolzen Betrag, der gottseidank von der zuständigen Krankenkasse übernommen wird. Nun sind nur die Erinnerungen wach geblieben. Der gemeinsame Sohn ist schon selbstständig, arbeitet als Krankenpfleger, muss manchmal bis zu 18 Stunden am Tag schuften, und findet nicht mal Zeit für sich, geschweige für seinen Vater. Einmal monatlich kommt er allerdings zu Besuch. Und das, was wach bleibt, sind die Erinnerungen.
Er selbst war drei Monate lang im Krankenhaus mit der Diagnose Knochenkrebs stationiert. Die Knochenmarktransplantation hat Wunder gewirkt, und nun ist er schon seit 2 Wochen zu Hause, völlig gesund. Gesund und einsam. Und das, was wach bleibt, sind die Erinnerungen.
Ich bin sprachlos. Versuche ihm Mut zu machen. Er ist gesund, seine Frau ist am Leben, gut aufgehoben. Und wenn man das Leben von nun an als eine Chance betrachtet, dem Schicksal zum Trotz? Wenn man annimmt, dass jeder Tag die Möglichkeit, sich neu zu entscheiden, bietet, ob man noch tiefer in die Traurigkeit versinkt, oder doch das Leben wählt? Sich vielleicht für das Leben entscheiden? Jeden Morgen, immer wieder? Immer wieder, bis sich neue, noch schönere Erinnerungen speisen? Denn das Leben ist so kurz. Einen Wimpernschlag lang.
Eure Neli P
Hier geht es zu weiteren Begegnungen: Die Einsame Der Unbekannte Ein Rezept für Glück Gurpreet „WILLKOMMEN! Ich heiße Olga. Ich bin Verkäuferin.“
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