Mi. Apr 24th, 2024

Endlich ist es soweit! Die Uraufführung vom großartigen Martin Gruber und aktionstheater ensemble „Lüg mich an und spiel mit mir. Pension Europa 02“ feierte am 2.06. Premiere im Werk X. Die brennend aktuelle Theaterperformance ist noch am 7. Und 8. Juni im Werk X, Wien zu sehen, jeweils um 19:30 Uhr.

Weiß

Weiß begegnet mir die Bühne heute Abend, auf der das preisgekrönte aktionstheater ensemble seine Neuaufführung darbietet. Die Compagnie, die durch die Aufrichtigkeit ihrer Inszenierungen erschüttert und durch ihr fulminantes Spiel einen einzigartigen theatralen „Ort“ des Ankommens im Jetzt, einen Anziehungspunkt für alle Suchenden schafft,  bleibt auch dieses Mal mit ihrem feinen Gespür für die Wundstellen der Gesellschaft entschlossen am Puls der Zeit. Um ganz ehrlich zu sein, genau das haben wir, das Publikum dringend gebraucht – die Konfrontation mit dem gnadenlosen Jetzt, nackt und schonungslos vorgetragen, vom Naiv-Witzigen übers zutiefst Rührende bis hin zum Brutalen. Nackt, in weißer Unterwäsche und ohne zusätzliche Attribute, erscheinen auch die Akteur:innen auf die Bühne. Schwarz wie in Malewitsch‘ Bild „Schwarzes Quadrat“ klaffen die dunklen Kreise auf der Projektionswand im Hintergrund der Bühne, und dieses Schwarz scheint dem bekannten Versuch, die Kunst vom Gewicht der Dinge zu befreien, sehr nah zu sein.

Weiße Räume, wie ich einmal geschrieben habe, stellen die perfekte Projektionsfläche für das Essentielle dar. Nichts ist schonungsloser als das alles widerspiegelnde Weiß. Vor dem Hintergrund  des unendlich Weißen treten auch heute Abend auf der weißen Bühne bis vor kurzem verborgene Gefühle, geheim gehaltene Stimmungen, verschwiegene Gedankenströme zum Vorschein. Sie hallen im Weiß wider, werden von dem universell Verbindenden aufgenommen und weitergetragen, einen Wimpernschlag lang. So lang, wie das menschliche Leben selbst. Denn bald erlebt das Weiß in seiner Zerbrechlichkeit den Fußabdruck einschneidender Erlebnisse, Klimakatastrophen, und wird von Tod und Gewaltgeprägt. Spätestens dann verliert das Weiß seine Unschuld und wird wie heute Abend auf der Bühne im Werk X durch das Rot des Blutes vor dem Hintergrund der Brutalität des Krieges gefärbt.

Lüg mich an und spiel mit mir. Von Martin Gruber und aktionstheater ensemble (c) Anja Köhler

Europa im Mittelpunkt

Im Mittelpunkt steht Europa. Horrorfilme gegen innere Unruhe, der romantische Traum von einer Riesenmenschenkette, die in die Ukraine einmarschiert und den Aggressor aufhalten kann, der nicht uninteressante Einfall von einem Benefizporno für die Ukraine – bei dem wohl mehr Menschen erreicht werden könnten –, die Suche nach dem Gegenteil von „straight“ („nicht straight“), der Akzent auf „bio“ im Bio-Weichspüler, die Gespaltenheit in zwei Gegner-Lager infolge des Ukraine-Krieges, die Position von Frauen in der Gesellschaft („Ich schlage zu wie eine Frau“, d.h. „nicht effektiv zuschlagen“) – facettenreich sind die witzig präsentierten Themen, die die großartigen Akteur:innen auf der Bühne aufgreifen. Verhängnisvoll pointiert erklingt die donnernde Frage „Was für eine Haltung soll ich einnehmen, um wahrgenommen zu werden?“, die durch ausdrucksvolle Choreographie und sich zutiefst einprägende Beats ergänzt wird. Immer wieder werden die Sessel auf der Bühne neu positioniert, nirgendwo stehen sie richtig, die innere Hin- und Her-Gerissenheit findet im ständigen Hin- und Herrücken ihren Ausdruck.

Lüg mich an und spiel mit mir. Von Martin Gruber und aktionstheater ensemble (c) Anja Köhler

Demokratie als Selbsterfahrung

Der schonungslosen Aufrichtigkeit verpflichtet, bieten uns die Darsteller:innen auf der Bühne den Einblick in einen Mikrokosmos als ein Sinnbild für die globale Gelähmtheit einer Gesellschaft, die nur „das Lügen zusammenhält“. Die mehrmals angesprochene „Vermittlung von demokratischen Werten“ bleibt auf der Strecke. Auf einem „Demokratie-Workshop“ stellt sich etwa heraus, dass 70 % unter Demokratie Diktatur verstehen. „Für mich selber bin ich eine Diktatur“, fügt Tamara hinzu. Demos gegen den Krieg rufen die rhetorische Frage hervor „Wie verlogen ist das???“ Und irgendwann artet dieses „Ich-schluck-das-alles-Runter“ in Gewalt und Würgeangriffe aus, die blutige Spuren auf der weißen Bühne hinterlassen. Wutausbrüche werden weder verhindert, noch real gestoppt, stattdessen in stiller Ohnmacht beobachtet und höchst konzentriert mit dem Handy aufgenommen. Die Realität der Social Networks siegt über die Brutalität des Unmittelbaren.

Lüg mich an und spiel mit mir. Von Martin Gruber und aktionstheater ensemble (c) Anja Köhler

Krieg und Zerbrechlichkeit

Die Bilder auf der Projektionsfläche im Hintergrund der Bühne wechseln: die Weizenähren verwandeln sich in von Bombenanschlägen zerstörte Gebäude, die eintönigen Fassaden in verletzliche menschliche Haut. Und irgendwann ist im weißen Hintergrund das Publikum selbst zu erkennen: der Mensch gegen sich selbst. Momentaufnahme, schlagartiges Wachrütteln, Reminiszenz – Offenbarung, in der die ganze Magie der Wirkungskraft des Theaters essentiell zusammengefasst ist. Man steht immer gegen sich selbst: Im Frieden und im Krieg, dies- und jenseits der Frontlinie, auf der Bühne oder im Publikum. Das Gefühl der Vergänglichkeit, durch die Projektionsbilder suggeriert, erinnert mich an das letzte Buch von Phil Klay und seine äußerst detaillierten Beschreibungen der Zerbrechlichkeit des menschlichen Körpers, auf der einen Seite, und das perfektionierte Instrumentarium des Krieges, auf der anderen. Nichts gegen den Krieg nützt es auch, dass „Liebe“ so ähnlich in beiden Sprachen – Russisch und Ukrainisch – klingt.

Lüg mich an und spiel mit mir. Von Martin Gruber und aktionstheater ensemble (c) Anja Köhler

In „Lüg mich an und spiel mit mir“ gelingt es dem aktionstheater ensemble die Echtheit des Moments, in dessen brennender Aktualität wir alle gefangen sind, durch durchdringendes verdichtetes Spiel künstlerisch nachzuahmen, und Fragen aufzuwerfen. Unter der Last aller sich in mir gestauten Emotionen, Sinnbilder, Eindrücke verlasse ich langsamen Schrittes den Saal. Ich habe es nicht eilig. Im Jetzt angekommen, habe ich alle Zeit der Welt, um über die Nacktheit der Wahrheit nachzudenken. Außerdem trage ich heute zufällig Weiß. Dankeschön, aktionstheater ensemble!

05. Juni 2022, Neli Peycheva

Konzept, Inszenierung: Martin Gruber
Text: Martin Gruber und Ensemble
Dramaturgie: Martin Ojster
Bühne, Kostüm: Valerie Lutz
Video: Resa Lut
Regieassistenz: Michaela Prendl

Licht: Arndt Rössler

Live-Musik: Dominik Essletzbichler, Daniel Neuhauser, Gidon Oechsner, Daniel Schober

Mit: Zeynep Alan, Babett Arens, Michaela Bilgeri, Luzian Hirzel, David Kopp, Tamara Stern

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