Vom 29.9. – 3.10.2020 war das mehrfach presigekrönte aktionstheater ensemble mit der Uraufführung Bürgerliches Trauerspiel – Wann beginnt das Leben im WERK X in Wien zu sehen
Was bleibt hinter uns?
Müll, Orangen, Plastikblumen, unbrauchbare Nationalflaggen – Spuren von Verbrauchtem und kein Funken Leben, keine – zumindest wage – Andeutung an Erschaffenes, Erfundenes, Erbautes. Nur Müll. Gitterschränke voller Überbleibsel der menschlichen Existenz. Untergang statt Aufgang. Dunkelheit statt Licht. In einer Welt ohne Menschen, auf einer Bühne, die seit Monaten auf ihre Darsteller wartet. In Zeiten eines Lockdowns. In einem Dasein ohne Essenz, in der Ego-Trips Schicksäle stärker denn je zusammenschweißen, die Erlahmung des Geistes so krass zu spüren ist, dass sie einen faden Beigeschmack hinterlässt und Subjekte kaum noch von Objekten zu unterscheiden sind.
„Wann beginnt das Leben?“, fragen Martin Gruber (Der Regisseur im Gespräch für den WIENER) und sein aktionstheater ensemble in ihrer zutiefst erschütternden Neuaufführung im WERK X. „WANN beginnt das Leben?“, möchten auch wir, das Publikum endlich einmal laut ausschreien. Die einsame Bühne – ein Abziehbild der Welt draußen – wartet auf ihre Darsteller und verschweigt vorerst die Antworten.
Die Bühne – nah und fern
Als erster traut sich Thomas, sie zu betreten. Irgendwie seltsam fühlt sich das an, langsam und vorsichtig tastet er sich heran, als ob er sich in einem Traumzustand befände. Dann nimmt er gleich die Kreide und zeichnet eine weiße Trennlinie, die ihn von der Außenwelt abgrenzt. Die Versuchung, einen Schritt nach vorne zu setzen, um den Zustand des Getrenntseins zu überwinden und gegen Regeln, Einschränkungen, Verbote zu verstoßen, ist groß: Das Jenseits war doch immer verlockender als das Diesseits, und die Freiheit einem lieber als die Unfreiheit. Die Trennlinie als Kunstmittel kommt oft in den Aufführungen von aktionstheater ensemble vor, entweder um den Einzelnen in die Enge seiner subjektiven Welt zu positionieren oder den Versuch zu artikulieren, über die eigenen, inneren oder die von außen aufgesetzten Einschränkungen hinwegzukommen. Endlich spuckt sich Thomas in die Hände und es geht los! Auch Horst und Benjamin bewegen sich unsicheren Schrittes, zaghaft nach Spuren von Lebendigkeit suchend, als ob sie ihre eigene Bühne kaum noch erkennen könnten. So nah und zugleich fern wirkt sie auf sie.
Die Tragik der Fallhöhe
Schon wieder gleitet unter der Regieführung von Martin Grubers das Kleinbürgerliche, Prosaische und Belanglose ins Globale hinüber. Die Auf-sich-selbst-Bezogenheit, vermischt mit einem bis aufs Äußerste ausgeprägte Gefühl der Vereinsamung, der Abgetrenntheit, abgeschmeckt mit einem witzig-ironischen Unterton, auf der einen Seite, und der globale, aus politisch-wirtschaftlichem Geschehen zusammengenähte Kontext, auf den der Verstand, der unbedingt eine Erklärung braucht, mit selbstgesponnenen Theorien reagiert, auf der anderen, bilden den inhaltlichen Rahmen.
Einer Marionette ähnlich zappelt das Selbst im Fluss von Moralvorstellungen, Debatten um die Gleichberechtigung, Wutanfällen auf Banken und Versicherungen, Überzeugungen über Liebekonzepte, Flüchtlingskrisen, Ernährungsgewohnheiten, Aufrufen der Bundesregierung herum. In sich selbst verfangen steht der Einzelne da hilflos und verloren.
Und so fängt es an: Michaelas Feststellung, sie mag keine süßen Getränke mehr oder der Entschluss, auf Fleisch zu verzichten, knüpfen an die Notwendigkeit, ein Alkohol-Tagebuch zu führen an, die während der Krise entstanden ist. Schon wieder der Lockdown hindert sie daran, die Gleichberechtigung in ihrer vollsten Form zu erfahren und endlich mal eine offene Beziehung zu führen. Die Seifen, die sie nach Kuba geschickt hat, im Austausch für Ärzte, wenn es mal dazu kommt, und das Experiment, bei dem sie zwei Seifen vor zwei Obdachlosen legt, lassen dann die Frage auftauchen: „Was ist schlimmer: Hier arm zu sein oder in Kuba?“ Der Redefluss wird oft von Sprüchen, Floskeln oder Erkenntnissen unterbrochen, wie „Der empathische Mensch ist oft einsam.“
Horst, der rastlos hin und her schreitet, lässt seien Wut an Banken und Versicherungen aus („Alle Arschlöcher!“) und redet gerne über Möbel, um irgendwann so nebenbei festzustellen, dass man die Hässlichkeit schön mit Schwarz bedecken kann – ein Statement, das wie ein Blitz auf die Bühne schlägt und beim Publikum lange nachklingt.
Auch Thomas ist in seiner Welt gefangen: er spricht über seine große Angst vor dem Faschismus („Oma hat Angst wie nach dem 2. Weltkrieg!“), gibt seiner Duft-Anhänglichkeit freien Lauf und hält sich fest an tradierte Wertvorstellungen – etwa von den Eltern übernommen –, die für ihn die Gültigkeit eines Kanons haben: „Fleiß, Verlässlichkeit, Talent, hat der Papa gesagt.“ Die alten Sprüche schließen eine zeitgemäße Emanzipation des Geistes aus.
„Und jetzt stellen Sie sich mich als Emilia Galotti vor“, unterbricht plötzlich Benjamin den Redefluss, dem Appell der Bundesregierung folgend, die Künstler in Krisenzeiten zu unterstützen und der hohen Kunst den Vorrang zu geben. „Leidenschaft, das ist, was heute fehlt!“, fährt er fort. Witzig-ironisch bis grotesk-traurig wirkt sein Auftritt, wenn seine Erzählung, während er im schwarzen Witwenkeid durch die Bühne schwebt, in persönliche Leidensgeschichte übergeht: von dem Augenblick an – angefangen bei der Schilderung von der Misshandlung bei der Armee bis er die Zahnprothese als Beweis herausnimmt – wird das Traurige plastisch, es wird dermaßen verdichtet, dass man die Bitterkeit des Leids wortwörtlich auf der Zunge schmecken kann.
Martin Gruber löst das bürgerliche Trauerspiel von seiner historischen Bedeutung ab und versetzt es in den gegenwärtigen Kontext, in dem der Tragik der Fallhöhe neue Dimensionen und Interpretationen beigemessen werden. Unglaublich, wie weit die Palette aus Assoziationen reicht, zu der der Regisseur greift! Aus dem unmittelbaren Vergleich mit den klassischen Werken entsteht das Witzig-Lustvolle, vor dessen Hintergrund das Gegenwärtige noch deutlicher wahrzunehmen ist. Die großartigen Darsteller Michaela Bilgeri, Horst Heiß, Thomas Kolle und Benjamin Vanyek übernehmen wiederum für uns, das Publikum mit ihrem unter die Haut gehendes Spiel, das einen an die Grenzen seiner Wahrnehmung treibt, den schwierigen Teil. Die Realität, die mit ihren lustigen, albernen, banalen, aber auch schmerzvoll-skurrilen Ausprägungsformen auf die Bühne übertragen wird, stellt ein bürgerliches Trauerspiel nämlich, in dem das Bürgerliche ins Zentrum des Tragischen rückt. Wie ein Karussell drehen sich Banalitäten, eine nach der anderen, mit der Lichtgeschwindigkeit und füllen so die Mikrowelt des Einzelnen vermeintlich mit Lebenssinn aus. Unabhängig davon, ob es dabei um Vorlieben, Gewohnheiten oder Überzeugungen geht, eines bleibt konstant: das Fehlen an einem starken Impuls, der ein gesellschaftlicher Konsens denkbar machen würde: Sowohl in den Banalitäten des Alltags als auch in der Besprechung der „großen Themen“ redet man aneinander vorbei, der Gemeinsinn ist verfehlt.
In der Umarmung von Musik und Tanz
Die wunderbare Sängerin Nadine Abado, der talentierte Schlagzeuger Alexander Yannilos und der uns allen bekannte Musiker Kristian Musser, die aktionstheater ensemble schon lange begleiten, halten musikalisch die Bühne fest in ihrer Umarmung und verleihen dem Stück durch die Wirkungskraft der Stimme, der Musik und des Schlagzeugs eine ganz besondere Fülle, indem sie entweder die Tonstärke virtuos hochklettern, sodass der Gesang beinahe als Hilferuf, der die Stille durchschneidet, wahrgenommen wird oder leise und gesprächig uns Bilder reinflüstern – da, wo die verbale Erzählung abbricht oder diese in die musikalische Begleitung eingewoben wird.
Wenn Thomas und Horst nicht breitbeinig dasitzen a là Manspreading oder demonstrativ-offensiv die Beine übereinanderschlagen (Sohlen zeigen nach außen!) bewegen sie sich im gleichen Tempo, mit ihren Liegestühlen in der Hand, die während der Krise mit ihnen beinahe zusammengewachsen sind, kreisen um sich herum, ohne aus dem eigenen eng umrissenen Bewegungsfeld ausbrechen zu können. Die gleich rhythmischen, eintönigen, sich wiederholenden Schritte auch bei den anderen DarstellerInnen widerspiegeln das Sich-Ewig-Wiederholende, das aus alten Denkmustern oder Eigentheorien Zusammengebastelte, das Neues nicht zulässt. Zugleich vereinen die synchronen Bewegungen auf der Bühne ähnliche Schicksäle, Charaktere, denen eine tragfähige Zukunftsperspektive fehlt. Als Thomas ausrastet, ist das als Ausbruch aus den eigenen Grenzen hinaus zu empfinden. Dass gegen Ende des Spiels auch manche der DarstellerInnen in den Käfigen hinter den Gittern stehen, stellt jedoch ein Zeichen dafür dar, dass es dem Einzelnen nicht gelingt, seinen Mikrokosmos zu verlassen und die Gitter zu durchbrechen, denn, wie Horst einmal bemerkt, man habe sich während der Krise an die Eintönigkeit gewöhnt.
Nichtigkeit als Chance
Wären nicht die fantastischen DarstellerInnen da, auf der Bühne, hätten wir, die Zuschauer vielleicht auch nicht die Chance bekommen, in die Rolle des Beobachters von uns selbst reinzuschlüpfen und somit den Schritt aus unserem eigenen Trauerspiel raus zu wagen. Diese Entscheidung überlässt aktionstheater ensemble, das sich weit fern von allen Versuchen hält, fertige Lösungen anzubieten, dennoch einem selbst. Das mehrfach ausgezeichnete Theater, das von dem Temperaturgrad seiner schonungslosen Subversivität her einzigartig ist, fordert uns mit seinem fulminanten Spiel immer wieder heraus, in den Spiegel zu blicken. Die Nichtigkeit des Daseins mit der radikalen Belanglosigkeit seiner Tagesthemen kollidiert im Bürgerliches Trauerspiel mit der äußert intensiv wahrnehmbaren Notwendigkeit, nach der Essenz und somit auch nach einem Gemeinsinn zu suchen, die eigenen Grenzen zu sprengen. Ob das uns gelingt? Das ist die Frage. Bis dahin: Alles Konfetti.
Neli Peycheva
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