Am 22.10.2023 zeigte *STERNE REISSEN* in Koproduktion mit dem Off-Theater, Wien das Ein-Frau-Musical des Satirikers Georg Kreisler “LOLA BLAU”.
Szenische Regie: ERNST KURT WEIGEL
LOLA BLAU: TAMARA STERN
Klavier: MARCELO CARDOSO GAMA
Kontrabass: MATHIAS KRISPIN BUCHER
Vor ein paar Wochen bin ich ihr begegnet – im Theater. Seitdem höre ich ihre Stimme immer wieder, ich höre sie tagtäglich, ich stoße auf sie zufällig beim Spazierengehen im Park, sehe sie, wenn ich, gefesselt von den in der Wärme meiner Hände auftauenden Schneeflocken, stehen bleibe und die Welt innerhalb von ein paar Sekunden ihre Umrisse ins Zeitlose verschwimmen lässt, wenn ich kurz vor dem Weihnachtsbaum halt mache, und meinen Blick nach oben, auf den leuchtenden Weihnachtsstern richte, wenn ich abends nach dem Abendstern unter den sich tummelnden Wolken suche – nach einem ruhigen Zufluchtsort, wo man, im grandiosen kosmischen Chaos, den Anker auswerfen kann. Lola Blau lebt. Seit ich das erste Mal ihre Stimme von der Bühne hörte, ist sie so real, dass es mir schwer fällt, über sie zu schreiben, wenn ich sie so intensiv präsent spüre. Manchmal denke ich mir, ich bin sie, und sie ist ich – ich trage eine Lola Blau in mir.
Seit ich ihr im Off-Theater begegnet bin, verbinde ich sie allerdings mit einem Stern. Und er hat einen Namen. Tamara. Tamara Stern.
Seit der Uraufführung in den 1970-er Jahren ist das „Musical für eine Frau“ von Georg Kreisler ein Dauerbrenner auf den Bühnen in den USA und Europa. Seit 2006 steht Tamara Stern auf der Bühne in der Rolle von Lola Blau und, wie sie es selbst zugibt, sie liebt dieses Stück. Dieses Mal war ihr aber nicht danach, die Welt draußen hatte auf einmal die erfundene drinnen, auf der Bühne, durch ihre erschütternde Grausamkeit überschattet, und doch hat sie ihren ganzen Mut aufgebracht und sich vor das Publikum gestellt. Traurig und innerlich durchwühlt, witzig und frech, fordernd und sich in sich zurückziehend erzählte sie uns eine Geschichte über die Fremde und das Gespür für das Eigene: „Man spürt seine Wurzeln nirgendwo so intensiv wie in der Fremde.“ Über das Gefühl des Alleinseins, das hervorgerufen wird, wenn man „plötzlich niemand fühlt“, singt sie, über das Zuhause, dass man niemals hat; gibt witzige Tipps, was man den Männern unbedingt sagen muss – „dass sie klug sind“ –, und fabuliert, was es wäre, „wenn man noch einmal erwachen könnte“, diese wunderbare, verletzte und zugleich unglaublich starke Lola Blau!
Nicht selten fühlt sich die Schauspielerin jüdischer Herkunft wie ihre Protagonistin, die junge jüdische Schauspielerin Lola Blau. Nachdem ich Tamara Stern als Lola Blau gesehen und erlebt habe, fühle ich mich von ihrem Schauspiel dermaßen überwältigt, dass auch ich mich mit Lola Blau gleichsetze – mit ihrem Schmerz, ihrer Melancholie und ihrem Mut. Neulich erwische ich mich immer öfter bei der Frage: Stellt nicht Lola Blau ein Sammelbild dar? Einen Namen mit vielen Gesichtern. Frauen, deren Stimme trotz der Schicksalsschläge nie verstummt. Und sie alle zeichnen sich durch ein feines Gespür für die Ungerechtigkeit aus. Ist nicht Lola Blau eine jede von uns?
1938 flieht Georg Kreislers Lola Blau vor den Nazis und verlässt Wien. Ihr Weg führt in die Schweiz und von dort aus nach Amerika, wo sie als Schauspielerin auftritt. Als sie nach dem Kriegsende zurückkehrt, muss sie leider feststellen, dass sich wenig geändert hat. Die Vergangenheit holt uns immer wieder ein.
Das Grausame an der Geschichte ist, dass sie sich wiederholt. Das Traurige an unserer Gegenwart ist, dass weder Friedenskämpfer, noch Nobelpreisträger, noch Wissenschaftler, noch die größten Denker unseres Jahrhunderts das Schlimmste verhindern konnten. Und dass somit die Evolution völlig geleugnet wird, wenn wir die Aggression als menschliche Komponente doch nicht überwinden können, trotz geistiger Höhenflüge und technischen Fortschritts. Die Menschheit rottet sich mit der gleichen Brutalität aus wie vor Jahrhunderten. Der Schmerz von Lola Blau wird immer intensiver, lässt nicht nach. Der kollektive Schmerz vermehrt sich, statt sich zu vermindern. Und da werden wir aller Wahrscheinlichkeit nach den Evolutionsbiologen recht geben, dass die Menschheit in 100 Jahren ausgestorben sein wird. Wenn ich allerdings an etwas glaube, dann an die Kunst als letzte Instanz der Menschlichkeit. Daran will ich glauben, weil ich es brauche. Ich will glauben, dass ihre Stimme nie verstummt.
Sing, Lola Blau, sing! Solange du singst, ist noch ein Funken Hoffnung auch für mich da, und ich singe mit.
Deine Neli P
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