Mo. Dez 30th, 2024
Zwei Neuinszenierungen von Marin Gruber und aktionstheater ensemble – in Kooperation mit Spielboden Dornbirn und Werk X

Mit “Die große Pension Europa Show” haben der Regisseur Martin Gruber und sein mehrfach ausgezeichnetes aktionstheater ensemble dem Wiener Publikum wieder einmal Stoff zum Nachdenken und kritischer Auseinandersetzung mit sich selbst geliefert. Denn im Mittelpunkt steht schon wieder die Persönlichkeit mit ihren Schwächen. Verstört, vom Hurrikan der erschütternden und in die Knie zwingenden gesellschaftspolitischen Ereignisse aufgesaugt, schreit sie danach, wahrgenommen zu werden. Gnadenlos, aber zugleich liebevoll und mit viel Humor stellt Martin Gruber das Eitle und Oberflächliche, eingebettet im aktuellen gesellschaftspolitischen Kontext, ins Rampenlicht.

Die große Pension Europa Show  ist noch am Di. 17. Jänner um 19:30 Uhr  im Werk X, Oswaldgasse 35a, 1120 Wien zu sehen.

Das WERK X in Wien, Oswaldgasse habe ich schon von allen Himmelsrichtungen, zu allen Jahreszeiten angestürmt. Jedes Mal komme ich hier angerannt, mit pochendem Herzen und einem freudigen Vorgeschmack auf etwas Geheimnisvolles, Aufregendes und auch Verpflichtendes. Denn ein Theaterbesuch, insbesondere wenn eine der alternativen Theaterkompanien spielt wie das mehrfach preisgekrönte aktionstheater ensemble, stellt an sich selbst eine kühne Aktion dar: Es ist ein Ausdruck bürgerlicher Position und zugleich eine Mutserklärung, sich dem sich auf der Bühne Ereignenden gnadenlos zu stellen. Would you dare?

Pension Europa 01: Zwischen Grenzziehung und Selbstoptimierung

Im Hintergrund der Bühne, wo die wunderbaren Musiker stehen, ertönen die ersten Beats. Auf den Projektionsflächen sind fließende Regentropfen zu sehen. Regentropfen fließen ineinander, Grenzen verwischen sich. Wo ist die Grenze, fragt sich Isabella, zwischen der Seite, wo es regnet und der anderen? „We believe in crossing the horizon line“, nimmt Aishas erschütternde klare Stimme den hoffnungsvollen Gedanken auf, dass die andere Seite doch erreichbar ist. Und dabei verlieren auf einmal auch die Grenzen zwischen Kunst und Wirklichkeit an Schärfe, sie gehen ineinander, sodass das Erfundene real, und das Reale erfunden wird: „Das kannst du in Wirklichkeit gar nicht sehen. Das musst du dir im Theater anschauen“, stellt Benjamin fest. Das, was in Wirklichkeit nur unklar wahrzunehmen ist, kann nämlich im Theater künstlerisch nachgeahmt und auf die Haut gespürt werden. Daher sind wir, das treue Publikum, ja auch hier, bereit, sich auf diese schmerzvolle, aber zugleich ironisch-amüsante Auseinandersetzung einzulassen.

Trotz der Unterschiede in der Herkunft, Religionsbekenntnis, Geschlechtsorientierung und der ironisch-pointiert dargestellten Betonung auf den eigenen ganz besonderen Mehrwert, sind zwischen persönlich und politisch, hier und dort, eigen und fremd, keine klaren Grenzlinien zu ziehen. Nackt, nur in Unterwäsche auf der Bühne, verkörpern die wunderbaren Akteur:innen im ersten Teil der Inszenierung den starken Drang nach Anerkennung, die Versuche zur Selbstoptimierung vor dem Hintergrund des Weltgeschehens. Muttermale entfernen, Vorschreibungen, wie man stehen oder sich bewegen sollte, um vorherrschenden Schönheitsidealen zu entsprechen, Verliebtsein über die geographischen Grenzen hinaus, die sogar „die Weltpolitik relativieren könnte“, die Bemühung, die eigene persönliche Geschichte noch spannender zu gestalten, um seinen Wert als Mensch noch stärker hervorheben zu können, Elemente aus der Kampfkunst und der ewige Kreislauf von „breave, strike, relax“ als Teil des Alltäglichen, die Überbetonung der Macht des Geldes, das ewig sich zu Wort meldende Ego – es werden ironisch-humorvoll Bilder gemalt, die das rein Persönliche in einen weltpolitischen Rahmen setzen. Dabei bleibt nur eines übrig – im Meer, in dem eine klare Grenzziehung zwischen Persönliches und Weltpolitisches unmöglich zu sein scheint, zu schwimmen, weiter zu schwimmen, zu einem Regentropfen zu werden. Denn, wie es Isabella sagt, wie kann man doch wissen, ob dann „das Tiefblau darin der Himmel über dir oder der Himmel in dir ist“.

Pension Europa 01 von Martin Gruber und aktionstheater ensemble (c) Gerhard Breitwieser (1)

Die große Show: Ich will wahrgenommen werden

Im zweiten Teil der Neuinszenierung bildet „Die große Show“, auf der Babetts 60. Geburtstag gefeiert werden soll, die Kulisse. Was versteckt sich hinter einem Ich, das sich bei jeder Gelegenheit in den Mittelpunkt drängt, im Rampenlicht stehen will, und dem das “Zur-Seite-Treten” so schwer gelingt? Wodurch wird das Selbstbild genährt? Sind Seelenzustände wie das unstillbare Bedürfnis nach Anerkennung von außen und die verwüstende Leere im Innenraum des Menschen nicht ein Abbild elender politischer Umstände? Sind Trennlinien überwindbar? Aktionstheater ensemble scheut sich auch dieses Mal nicht, im zweiten Teil seiner Neuinszenierung „Die große Show“, das Ich ironisch-kritisch und mit viel Humor zur Schau zu stellen. Und nicht zufällig überträgt uns Michaela Bilgeri mit ihrer mitreißenden Erzählung, bei der sich das Publikum vor Lachen zerkugelt, schon gleich zu Beginn gerade auf den Zentralfriedhof – die Trennlinie zwischen Leben und Tod. Ihre angebliche Bewunderung von einem schon älteren Sänger, der kaum noch stehen konnte, setzt sie mit Babetts Alter in Verbindung. Dass Babett trotz ihres Alters hier „heute noch so stehen“ kann, berührt Michaela echt, was sie auf ihre Empathiefähigkeit zurückführt: laut einer Studie sind ja „positive Charaktereigenschaften prinzipiell besser geworden“. Das Geburtstagskind, die wunderbare Babett Arens, wird von Michaela, die ja einmal ihr zuliebe zur Seite treten will, mit dem Nibelungenlied begrüßt – als Beispiel für den Untergang der Germanen infolge mangelnder Empathie, so Michaela. Die Show der Eitelkeit ist in vollem Gange, immer wieder wechselt sie ihre Outfits auf der Bühne, auf der Suche nach dem besten. Während Babett auch mal so im Mittelpunkt stehen will – denn “geht es mir gut, geht es allen gut” –, auf ein gut funktionierendes, moralisches Rüstzeug Wert legt, fabuliert Michaela “wie im Humanismus” von einer allumfassenden Show, von einem “Gesamtkunstwerk” aus Zauberern, Musik, Gesang etc. aus allen Schichten, „Gebildeten und Bildungsfernen“, die „von der Spaltung zurück zur perfekten Gesellschaft“ führen würde.

Pension Europa 01 von Martin Gruber und aktionstheater ensemble (c) Gerhard Breitwieser (1)

“Die große Show” wird von den Zaubertricks des Zauberers Raphael abgerundet, der dank seiner Jugend sich den romantischen Versuchen widmet, einen Moment des Staunens zu erschaffen, der Magie, und in dieser Weise „den Leuten einen Moment der Hoffnung zu schenken“.

Bei der Selfies-Diashow, die Babett anlässlich ihres Geburtstages projiziert, bricht das Publikum in schallendes Gelächter aus. Selbstverständlich darf bei einer großen Show die Selbstexposition des Egos nicht fehlen, denn was wäre es ohne seine Multiplizierung?

„Blut ist das, was uns verbindet!“, kündet der Festredner Elias Hirschl in seiner einem unter die Haut gehenden Rede an, und ruft dabei zu Blutspenden gegen die Spaltung der Gesellschaft auf, mit denen man „allen helfen kann, wie die Rettung“, auch einem Faschisten, denn auch ein Faschist sei ein Mensch.

Die letzte Szene schließt mit dem gefühlsbetonten Auftritt vom bezaubernden Benjamin, den wir nicht nur als großartigen Darsteller, sondern auch von seinen Brel-Konzerten (https://nelisworld.com/2021/10/17/es-lebe-die-leidenschaft/) kennen, und „Die Chancenlosen“. Ob die Chancenlosen doch eine Chance hätten?

Pension Europa 01 von Martin Gruber und aktionstheater ensemble (c) Gerhard Breitwieser (1)

In der mitreißenden zweiteiligen Performance – der Neuinszenierung von „Pension Europa 01“ und der Uraufführung „Die große Show“, die sich die Zuschauer an einem Abend anschauen können, werden die großartigen Darsteller:innen witzig-amüsant mal in den Abgrund getrieben und schonungslos-ironisch bloßgestellt, mal mit Mitgefühl und Liebe wieder aufgefangen. Es sind diese höchste Konzentration im Augenblick, die Verdichtung der Spannung, der explosionsartige Auftritt der Darstellerinnen auf der Bühne, der durchstechende Blick ins Publikum – all das durch die sich tief einprägenden Beats der Musik unterlegt, – die einen ganz im Moment verankern. Ein Moment voller Offenheit. Und genau in diesem stark verdichteten plastischen Moment passiert es: Es erfolgt die Konfrontation mit sich selbst. In diesem Moment wollen wir, das Publikum verweilen. Danke, aktiontheater ensemble!

Konzept/Inszenierung: Martin Gruber | Text: Martin Gruber und aktionstheater ensemble sowie Claudia Tondl, Elias Hirschl |Dramaturgie: Martin Ojster | Bühne, Kostüm: Valerie Lutz | Video: Resa Lut | Regieassistenz: Michaela Prendl | Medienkontakt: Gerhard Breitwieser | Live-Musik: Dominik Essletzbichler, Christian Musser, Daniel Neuhauser, Gidon Oechsner, Daniel Schober, Pete Simpson

Darsteller:innen: Babett Arens, Michaela BilgeriAisha EisaIsabella JeschkeElias Hirschl, Raphael Macho, Kirstin Schwab, Tamara Stern/Zeynep AlanBenjamin Vanyek

Mein Interview mit dem Regisseur Martin Gruber im WIENER: https://wiener-online.at/2018/11/14/kunst-ist-genau-das-refugium-wo-es-darum-geht-subversiv-sein-zu-koennen-regisseur-martin-gruber-im-interview/

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