Do. Nov 21st, 2024

Rote Ballerinas im Einsatz

Es war an der Zeit, meine treuen roten Ballerinas aus dem Schrank rauszuholen und zu Hilfe zu rufen… Es war einfach soweit. Also schlüpfte ich heute hinein und ging durch die vorzeitig ergrauten Straßen Tarnovos bei fast winterlichen Temperaturen. Ein Schritt, zwei Schritte, drei Schritte, ein Meter, zwei Meter…, langsam übe ich im Laufen, nach der 14-tägigen Quarantäne zu Hause. Den ersten Kilometer geschafft. Wie viele Schritte machen einen Kilometer aus? Bergauf am Sexshop vorbei. Ein Blick links ins Schaufenster auf die gefesselten Puppen bestätigt, dass auch sie in ihrer Bewegungsfreiheit eingeengt sind. Oder waren sie es schon immer?
Wie viele Schritte sind es von hier bis nach Wien? Wenn ich mich beeile, komme ich da im Juni an? Für das Sommerkino? Aus dem Weingeschäft von einem Fass blickt misstrauisch eine porträtierte Schönheit auf die leere Straße und hält Ausschau für den Richtigen. Kommt er…? Kommt er nicht…? Nein, meine Liebe, er kommt nicht! Zumindest in den nächsten zwei Monaten nicht! Sie zuckt nicht mal mit den Wimpern. Die Hoffnung stirbt ja zuletzt, sagt man im Volksmunde.
Mein Spaziergang führt weiter durch die Hauptstraße, die immer geradeaus verläuft, keine Abwege, keine Quergassen. Ein gerader geebneter Weg. Immer wieder geradeaus… Wie viele Tage brauche ich, um irgendwann in der Strandbar Hermann anzukommen? Den Sand unter meinen Füßen zu spüren?
Rechts wirbt der Lametta- Glitzer-Luxus-Highsociety-Shop für Schutzmasken. Die einfachsten wurden da für 6 Lewa verkauft, bei realem Preis von 0,60 Lewa, bevor auch er schließen musste. Gibt es denn keinen Verbraucherschutz in diesem Land??? Schutz. Schutz ist ein Fremdwort hier. Wenn man sich schützen will, dann lieber selber, aus eigener Kraft. Good luck!
Ein Spaziergang durch eine surreale Stadt. Plötzlich gehen meine Gedanken Richtung Fukuyama. Eine Welt ohne Menschen. Habe ich hier schon mal gelebt? Wie ist es dazu gekommen, dass ich mich hier und nicht woanders aufgehalten habe? Wollte ich nicht Diplomatin werden? Und davor… Balletteuse? Der Dessous-Shop soll bis vor zwei Wochen auch Gesichtsmasken angeboten haben, lese ich im Schaufenster. Seine sind jedoch aus Stoff, kosten dementsprechend wahrscheinlich mehr. Unterwäsche braucht ja keiner in diesen Krisenzeiten. Hat vielleicht auch der Agent Provocateur Online-Shop alle Zustellungen eingestellt?
Da, wo früher ein Schuhgeschäft war, lese ich die Aufschrift: „Koffer im Sale“. Wer braucht bloß noch einen Koffer in diesen Zeiten? Bisher waren es immer die finanziellen Möglichkeiten, die einen von einer Reise abgehalten haben. Nun kann man auch mit voller Geldbörse nirgendwohin reisen. Ich reise jedoch nach wie vor. Im Kopf.
Bologna, cara mia Bologna! Sind die Tauben auf Piazza Maggiore immer noch da? Findet die Chocolatier-Ausstellung im November wieder statt? Hat im Sommer der kleine Shop Sacro Cuore Profumi wieder geöffnet? Kann ich da irgendwo die Nachspeise „Die drei Nonnenbrüste“ endlich kosten? Ich halte mal kurz vor dem Souvenirshop gegenüber der Handwerkerstraße inne. Interessant. Erster westlicher Hauch ist schon in der Trachtenmode zu spüren, das kann wohl keiner bestreiten! Einer der Oberteile sieht wie ein Korsett aus. Oder habe ich vielleicht etwas von der bulgarischen Folkloretradition verpasst?
Endlich am Ziel! Im DM Geschäft angekommen, schaue ich mich schnell nach glutenfreien Produkten um. Zwei Packerl Falafel! Glück gehabt! Wieso hat DM in Bulgarien immer noch keinen online Shop? Hier kann man auch Desinfektionsmittel, Einweghandschuhe und Toilettenpapier finden! Reduziert!
Ich drehe noch zwei Runden um die Post herum und dann geht es wieder zurück. Wenn Ihr glaubt, dass ich allein war, dann irrt Ihr Euch gewaltig. Eine neue Freundschaft entflammte irgendwo in der Mitte der Hauptstraße. Mein neuer treuer Freund begleitete mich den ganzen Weg heim, bis er endlich begriff, dass ich mein Herz einem anderen klaffenden Freund schon geschenkt hatte, nämlich dem, der von der anderen Seite der Steinmauer auf mich wartete. Enttäuschungen sind nämlich keine Seltenheit in Krisenzeiten. Bleibt gelassen!

                                                                                        

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