Das Universelle,  Nicht kategorisiert

Die Himmelsleiter hinauf: Eine Erinnerung an meine Mutter

Über Verlust, Rettung und die zarte Verbindung zwischen dem Dies- und dem Jenseits

Genau vor einem Jahr ist meine Mutter von uns gegangen. Ich konnte sie nicht retten. Zwar wusste ich, dass Menschen sterben und diese Welt verlassen, doch hatte ich den Tod immer als etwas Fernes, fast Unwirkliches empfunden – so wie damals, als unsere Vermieterin starb und ich gerade einmal sechs Jahre alt war. Das erstarrte Wesen, das alle beweinten, war Lichtjahre von mir entfernt. Erst als meine Mutter ging, wurde der Tod für mich greifbar und real.

So zerbrechlich wie eine Wachsfigur lag sie im Krankenhausbett, mit dem Zopf, den ich ihr geflochten hatte, und stellte immer wieder die Frage, wann wir endlich nach Hause gehen würden.

Mama, weißt du, wie schön du bist!

Mama, hast du Schmerzen?

Mama, atme – bitte atme tief ein!!!

Mama, nur noch ein wenig, dann gehen wir. Bald.

Meine Mutter hat Krankenhäuser ihr Leben lang gemieden und stets gefürchtet, jemals in einem zu landen. Nichts erschien ihr schlimmer als dieser Gedanke. Doch diesmal bestand ich darauf, sie dahin zu bringen – in der Hoffnung, sie dort retten zu können. Wir würden gemeinsam hineingehen und auch gemeinsam wieder hinausgehen, hatte ich ihr versprochen. Kurz vor ihrer Entlassung stieg sie still und leise die Himmelstreppe hinauf – so leicht, fast unmerklich, glitt sie zu den funkelnden Sternen, ließ das Leben mit einer Tapferkeit los, die ich ihr nie zugetraut hätte. Dabei hatte sie doch solche Angst vor dem Tod!

So hatten wir es nicht abgemacht, Mama. Ich hatte Pläne für uns beide.

Ich hatte ihr versprochen, wir würden zusammen nach Hause gehen. Zum ersten Mal in meinem Leben konnte ich mein Wort nicht halten: Ich konnte sie nicht retten.

Seit diesem Tag verspüre ich den unaufhörlichen Drang, zu retten. Ich eile wie ein Wirbelwind zu den Schaukeln im Park neben der Schule, wenn ich mit meiner Klasse dort bin, allen voran, nur um sicherzugehen, dass die kleinen Kindergartenkinder nicht von meiner ausgelassenen Schar wie Federchen fortgetragen werden. Stürzt jemand zufällig, eile ich sofort zu Hilfe. „Tut es weh?“ Wenn ein geliebter Mensch erkrankt, lasse ich alles andere liegen und schlüpfe gedanklich in den weißen Kittel. Dann spüre ich, wie alles andere an Bedeutung verliert, wie mein Körper leichter wird, als ob ich nicht mehr auf dieser Erde, sondern näher an jener anderen Welt wäre – der Welt des Feinstofflichen, des Unausgesprochenen, des universell Verbindenden. Hätte ich die Kraft, würde ich neun Berge überqueren, aus neun Brunnen Wasser holen – wie es in der bulgarischen Folklore heißt –, ein Wunder vollbringen, nur um zu retten. Wenn ein Freund in Not ist, suche ich nach einer Lösung – entwirre Gedanken, verbringe schlaflose Nächte, bis ein Lichtschein sichtbar wird. Wenn jemand weint, trockne ich seine Tränen.

In solchen Momenten werde ich vom Wunsch getragen, das Leid in dieser Welt zu verringern, in der es doch eine stetige Konstante ist.

Stolz.

Ich lege meinen Stolz auf die Waagschale, die Zeit, die mir davonrinnt, die Kräfte, die mir geblieben sind und wiege sie gegen das Leid. Die Waage neigt sich: Dürfte ich noch hundertmal neu entscheiden, würde ich immer wieder den Menschen mit all seinen Stärken und Schwächen über den Stolz stellen und alles geben, nur um jemanden retten zu können. Ich schlucke meinen Stolz hinunter, halte die Zeit an, lege meine Rüstung an.

Es schmerzt mich um die Menschen. Ich sehe sie – zerbrechlich, verzweifelt, verhärtet, von Schmerz gezeichnet, umherirrend – und ich möchte sie retten. Ich möchte sie retten in diesem einen so kurzen Leben. Jetzt. Bevor auch ich die Himmelsleiter emporsteige. Doch erst kürzlich habe ich erkannt, welch große Illusion dieser Wunsch ist. Es fällt mir schwer, es sogar zuzugeben: Ich kann niemanden retten. Manchmal wollen Menschen auch gar nicht gerettet werden.

Für die Seele meiner Mutter habe ich die Augustinerkirche in Wien gewählt – weiß, zart, zerbrechlich und lichtdurchflutet, so wie sie selbst. Dort könnte sie ihre Flügel ausbreiten und frei zwischen den Welten schweben, zwischen Diesseits und Jenseits. Ich suche sie im Kerzenschein, im Licht. Oft stelle ich mir vor, sie sei nun ein Vogel – so fühlt es sich an.

Mama, Mama, bist du es?

Sie kommt zu mir, besucht mich, vergisst mich nicht – sie hat mir ja versprochen, immer bei mir zu sein. Von ihr geblieben sind mir ihre Schreibmaschine und ihr Telefon – ihre Verbindung zu den Menschen und zu mir. Nun muss ich aufbrechen. An diesem vierten November habe ich ihr so viel zu erzählen.

Eure Neli P

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