Sofia habe ich nie gemocht. Niemals.
Und nicht wegen der Tatsache, dass da, in der Volksversammlung, diejenigen sitzen, die alles andere tun, als das Volk zu vertreten, auch wenn auch das ein plausibler Grund wäre. „Schicksal, Schicksal!“, wehklagen die einen. Eine Ausrede, bei der sich jede andere Erklärung erübrigt, sobald man nur einen schnellen Blick in die Geschichte zurück wagt. Diejenigen von gestern sind die Regierenden von heute. Fakt.
Sofia habe ich nie gemocht. Wegen der krassen Gegensätze. Der Diskrepanz zwischen dem Scheinbild, das man nach außen hin demonstrieren will, und der harten Wirklichkeit, die sich zwei Quergassen weit weg von „Vitoschka“ anbietet. Einerseits die glänzenden Vitrinen der Hauptstraße, und ein paar Meter weiter die heruntergekommenen Fassaden, die Löcher auf der Straße, der Müll, die Bettelnden…
Einmal hier angekommen, breitet sich dieses Gefühl des Elends aus, überwältigt mich, und nichts mehr kann es auslöschen. Es handelt sich nicht um Einzelfälle, sondern um eine allgemeine Stimmung – die Existenzweise der Mittelschicht. Wenn man es noch näher spüren will, steigt man in den öffentlichen Verkehr ein: graue Gesichter, farblose Figuren, in sich eingesunken, stumm, auf sich selbst gelassen. Ob sie die neue U-Bahn in eine helle Zukunft hineintransportieren wird, mitsamt ihren Sorgen von heute? Anders als die Armut im 16. Wiener Bezirk spürt sich das hier an, aber dazu ein anderes Mal. Dort zeigen zumindest Frauen Charakter: Sie schreien, verfluchen schamlos ihre Männer, auch Schwangere rauchen wie Schornsteine und verzichten auf alle Zwänge wie etwa auf den BH. Hier sind hingegen sowohl Frauen als Männer verzweifelt still.
Einmal, als ich auf einer Konferenz in der Neuen Bulgarischen Universität eingeladen war, musste ich auf High Heels durch eine trockene Schlucht und auf staubigen Feldwegen ohne Straßenbeleg bis hin zur Universität laufen, ein Abenteuer! Keiner hatte an die Infrastruktur gedacht, in der sich diese sonst sehr schöne Oase befindet. Am Tag darauf, um 5 Uhr früh am Morgen bin ich losgefahren. Keine Kraft konnte mich länger in der Hauptstadt aufhalten.
Ich gehe am Gerichtsgebäude vorbei und erinnere mich, wie einmal eine der Statuen vom Dach heruntergefallen war und einen der neben mir stehenden Fußgänger getroffen hatte. Damals wurde mir endlich klar: Gerechtigkeit ist das Letzte, was man hier finden kann.
Dieses Elend lässt mich erblinden. Für nichts anderes habe ich Augen. Denn im Mittelpunkt aller Betrachtungen, des ganzen Philosophierens, der breiten Wahrnehmungspalette steht doch immer wieder der Mensch, nicht wahr? Um die Balance nicht zu verlieren, schaue ich konzentriert auf das Gebirge mir gegenüber, dessen Silhouette sich in der Ferne abzeichnet.
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