Di. Dez 3rd, 2024

Morbus Hysteria. Wir haben alle recht

Uraufführung von Martin Gruber und aktionstheater ensemble

In Koproduktion mit dem internationalen Festival Bregenzer Frühling, Kulturservice der Landeshauptstadt Bregenz. In Kooperation mit Werk X. In Wien noch am Sa. 3. Juni und So. 4. Juni jeweils um 19:30 Uhr im Werk X, Oswaldgasse 35a, 1120 Wien zu sehen.

Wie in allen bisherigen Aufführungen vom mehrfach preisgekrönten aktionstheater ensemble, das ich seit 2018 begleite, geht es auch bei der Neuinszenierung Morbus Hysteria um einen Paradigmenwechsel. Deutungsversuche, Wichtigtuerei, Belanglosigkeit – Phänomene der Einkapselung in der kleinen eigenen Welt werden witzig-ironisch und pointiert zur Schau gestellt.

“Wie betreten den Raum!

Mit diesen Worten treten Thomas und Kirstin auf die Bühne auf, ihre Schritte sind vorsichtig, ängstlich erforschen ihre Blicke die Umgebung, betasten den Raum, der, wie sich später herausstellt,  ihre kleine Mikrowelt, in der jeder befangen ist, symbolisieren soll. Die Farben auf der Bühne sind schwarz-weiß, Schwarz-weiß tragen auch die Darsteller:innen. Die Projektionswänden rund herum spiegeln Bäume wider – Die grünen Wälder Österreichs? Die österreichische Gesellschaft selbst, in der Funktion des teilnahmslosen Zuschauers? -, durch die ein leichter Wind weht; sie umgeben die Bühne, einem Schutzzaun ähnlich, und werden Zeugen von dem, was sich da gerade ereignet.

Typisch österreichisch: Jeder hat den eigenen Rhythmus

Gleich zu Beginn wird das Thema über die interkulturelle Kulturvermittlung und den Deutschunterricht für Migrant:innen eröffnet, und in diesem Zusammenhang auch die Frage gestellt, was man als österreichisch bezeichnen kann. Spielerisch – mit Körperteilen -, meint Kirstin, kann österreichisches Deutsch unterrichtet werden (für Deutschehrer:innen in Albanien), indem man vier Körperteile nacheinander in einen Rap-Rhythmus integriert. Was ist dabei das typisch Österreichische? Dass jeder einen eigenen Rhythmus findet, erklärt Kirstin, und zeigt es vor, das Traurige trifft auf das Komische. Auch die Darsteller:innen haben ihren eigenen Rhythmus – jeder/jede nimmt sich unglaublich wichtig, besteht auf die eigene Richtigkeit, doch der Rhythmus ist das ,was sie eben vereint: der ausschließlich auf sich selbst gerichtete Blick. Immer wieder werden die gleichen Rapp-Schritte eingesetzt, immer im gleichen Rhythmus, durch die kräftigen Beats der Musik unterlegt. Ist nicht der gleiche Rhythmus vielleicht das, was uns, von den Banalitäten der kleinen Mikro-Welt getrieben, vom Wesentlichen – den Versuch, einen gemeinsamen Rhythmus auf der gesellschaftlichen Bühne  zu finden – ablenkt? Ob der Apfelstrudel – „eine österreichische Köstlichkeit“ (Benjamin) oder die Spätzle – „das Hitlermenü“ – auch als typisch österreichisch gelten? Die Verweise treffen auf die richtige Stelle.

Morbus Hysteria. Wir haben alle recht. Von Martin Gruber und aktionstheater ensemble (c) Gerhard Breitwieser

Diversität: „sichtbar und unsichtbar“

Dass Diversität  mithilfe einer App berechnet werden kann, die die Laute, die Tiere von sich her geben, in unterschiedlichen Ländern lautmalerisch demonstriert,  wie etwa von einem Pferd oder einem Frosch, und dass es auch dabei Unterschiede geben kann, erzeugt ein komischer Moment, bei dem das Publikum in lauter Gelächter ausbricht. Weiter vertieft man sich in Versuchen, die eigene Empathiefähigkeit ganz vorne hinzustellen und als Fahne vor sich zu schweben, sucht man nach ihrem Gegenteil, philosophiert über die Funktion vom Dirndl, eigentlich von Juden erfunden (Dirndl mit 16?), lenkt so nebenbei den Blick auf die Schwachstellen des Feminismus („Das hat schon EINE FRAU gesagt.“). Als Benjamin Meryl Streep zitiert: „Du lebst in diesem Land und muss für diesen Privileg zahlen“, stellt man sich unumwunden die Frage, inwiefern dieses Statement gerechtfertigt ist bzw. wie hoch dieser Preis sein muss. Dass sich Thomas Diversität im Theater wüscht – ein neues Männerbild, von Sensibilität geprägt, und er dabei letztlich ausrastet, lässt einen nachdenken: wie ist er eigentlich, der Mann von heute? Auch ein anderer wichtiger Moment, nämlich die Judenproblematik, wird pointiert von Thomas in den Mittelpunkt gestellt (das Restaurantgespräch, das vom Nebentisch belauscht wird). Das Thema vom jüdischen Humor wird dann von der wunderbaren Tamara aufgegriffen, die sich als lustig findet und als solche wahrgenommen werden will, was aber einen lustig-tragischen Moment erzeugt, und sie letztendlich in Tränen ausbricht. Eine vielschichtige Darstellerin, die innerhalb von wenigen Sekunden verschiedene Stimmungsnuancen auf die Bühne bringen kann. „Sing Tamara“, sagt Benjamin zu ihr, „das Singen ist ein starkes Ausdrucksmittel.“

Morbus Hysteria. Wir haben alle recht. Von Martin Gruber und aktionstheater ensemble (c) Gerhard Breitwieser

Auf der Suche nach der Identität

In Pop-Ups, erzählt der großartige Benjamin, den wir nicht nur vom Theater, sondern auch von seinen zutiefst rührenden Jacques Brel-Auftritten kennen, gibt es Menschen, die sich als Tiere empfinden, und etwa mit „Wolf“ angesprochen werden möchten. Die Suche nach der Identität scheint völlig auf dem Holzwege geraten zu sein, Menschlichkeit tritt auf Kosten von tierischen Zügen zurück. Die Spannung auf der Bühne wird einen Schritt nach dem anderen dermaßen gesteigert, dass im nächsten Moment Benjamin und Thomas dem tierischen Trieb nachgeben und aufeinander auf der Bühne liegen – das Ganze mündet in einen tierischen triebhaften Kampf, ein Ringen, das ins Bodenlose führt. Und wenn alle Worte verstummen und sich überflüssig erweisen, kommt es tatsächlich dazu, dass Tamara sich vor das Mikro hinstellt und ihre starke, klare, gefühlsbetonte Stimme den ganzen Saal einnimmt – „So sad…“ –, bis die Hysterie wieder die Oberhand gewinnt und das alte Spiel von Neuem beginnt. „Ihr seid so extrem…“, macht Manuela so nebenbei die Bemerkung. Somit knüpft sie an das Thema Rechtsextremismus an. Um das richtige Maß muss es gehen, betont sie, die Balance, die Mitte muss man finden: wenn man einem was Schlechtes antut, muss es für diesen Menschen als Ausgleich aus was Gutes tun. Bitter-traurig fühlt sich diese Aussage an, die die die Verschlossenheit der eigenen kleinen Welt widerspiegelt und den Weg für einfache Manipulation aufgrund von Fehlinterpretationen zeichnet.


Morbus Hysteria. Wir haben alle recht. Von Martin Gruber und aktionstheater ensemble (c) Gerhard Breitwieser

„Ich nehme immer nur von den Großen“

Soziale Ungerechtigkeit, oder genauer das Fehlen einer solchen, ist ein weiterer pointiert auf die Bühne dargestellter Moment. Lustig-ernst klingt Manuelas Erzählung, wie sie beim Einkaufen falsche Produkte an der Selbstbedienungskassa einscannt und dafür teurere in die Tasche legt. Ihr Protest. Es ist kein Stehlen, sagt sie, da sie immer nur von den Großen nimmt, und nie von den Kleinen, sie verteile es einfach um.

In der letzten Szene scheint die Hysterie alle niedergeschlagen und alles um sich herum verwüstet zu haben. Nur die klaren, einem unter die Haut gehenden Klänge der Musik steigen empor. Sie ähneln die Ankündigung einer Katastrophe und zugleich einem Hilferuf, der von der Erde Richtung Himmel gesendet wird, einem SOS-Signal.

Ein Abend, der lange nachklingt. Intensive Eindrücke, die sich zutiefst einprägen, Bilder, Phrasen, Verweise, Stimmungen, in deren ganzen Nuancen-Palette, die man mitnimmt. Momente der Aufrichtigkeit, die einem zutiefst erschüttern, unbequeme Fragen, die durch ihre Brisanz durchstechen. Banalitäten, die die Tragikomödie des Alltags in der kleinen Mikrowelt, ausmachen. Orientierungslosigkeit und die Frage: Was ist Österreich? Fulminantes Spiel, bei dem die Hysterie einer Gesellschaft auf den Höhepunkt gebracht wird.

Für Euch gesehen und erlebt.

Eure Neli Peycheva

 Konzept/Inszenierung: Martin Gruber | Text: Martin Gruber und Ensemble | Dramaturgie: Martin Ojster | Bühne/Kostüme: Valerie Lutz| Video: Resa Lut | Musik: Nadine Abado, Andreas Dauböck, Pete Simpson | Regieassistenz: Johny Ritter| Medienkontakt: Gerhard Breitwieser

Mit: Michaela Bilgeri, Thomas Kolle,Kirstin Schwab, Tamara Stern, Benjamin Vanyek

Live-Musik: Nadine Abado, Andreas Dauböck, Pete Simpson

Morbus Hysteria. Wir haben alle recht


Uraufführung von Martin Gruber und aktionstheater ensemble

In Koproduktion mit dem internationalen Festival Bregenzer Frühling, Kulturservice der Landeshauptstadt Bregenz. In Kooperation mit Werk X


Uraufführung: Di. 30. Mai 19:30 Uhr

Do. 1. Juni, Fr. 2. Juni, Sa. 3. Juni und So. 4. Juni jeweils 19:30 Uhr 

im Werk X, Oswaldgasse 35a, 1120 Wien

Karten (öffentlich): reservierung@werk-x.at, T +43 1 535 32 00-11, werk-x.at
www.aktionstheater.at

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