Die Not, nicht der Überfluss hat Olga dazu getrieben, nach Wien zu kommen. Notgedrungen hatte sie ihre sieben Sachen gepackt – die alle in ihrem Pelzmantel reinpassten –, und verließ die Heimat, nachdem ihr das Leben ein paar harte Ohrfeigen verpasst hatte, und einige davon sie in die Knie gezwungen hatten. Hinter sich, in Odessa, ließ sie einen Ex-Mann, der auf seine Weise um ein besseres Realitätsbild kämpfte, indem er das Verzerrte draußen durch Alkohol wieder auszuloten versuchte, und den sie lange genug auf dem Weg, genannt „Ehe“, mitgeschleppt hatte. Ob sich seine eigene Realität dadurch schöner, erträglicher anfühlte, wusste Olga nicht, ihre war allerdings nur noch gruseliger geworden. Bis sich eines Tages ein verzweifelter Schrei ihren Lippen entschlüpfte und Olgas ermattete Seele, die mit dem einem Bein schon im Reich der Schatten stand, zurückholte. Der führte sie Richtung eine Welt, die sie nicht kannte, in der aber ein wie von hier bis zum Mond hin und zurück großes Versprechen zu schlummern schien. Träumen? Nein, das hatte sie schon als Kind verlernt, als ihr die Fähigkeit zu träumen von der Diebin Realität gestohlen wurde, und anstelle von Blut in ihren Adern Bitterkeit floss.
Auf den ersten Blick sah es so aus, als ob es Olga kaum etwas gekostet hätte, Odessa gegen den Wiener Westwind auszutauschen, und das glaubte auch sie eine Weile lang, bis es nicht auf ihren Pelzmantel ankam. Der wurde im fernen 1886 von einem großzügigen Ur-Ur-Urgroßvater und wohlhabendem Fabrikanten anlässlich seiner Hochzeitsfeier als Zeichen von Liebe und ewiger Treue an die geliebte Braut verschenkt, und seitdem immer wieder über Generationen hinweg von der Mutter an die Tochter vererbt, galt als eine Familienreliquie und irgendwann, als sie 18 wurde, gehörte er endlich auch ihr. Wie einen Zauberumhang schlang Olga den Mantel um ihre Schultern. Viele klirrend kalte Winter kannte er schon, unzählige Songs der Dachrinnen hatte er sich angehört, tausendmal hatte er den aus dem Holzofen aufsteigenden Rauch im Spätherbst in sich aufgenommen. Tränen von Frauen, die ihre Nächsten verabschiedeten, von Männern, die ihre Liebsten zum letzten Mal umarmten und dann spurlos verschwanden, von Kindern, die früh verweist waren, kannte der dicke Pelzmantel; Tränen vor betörender Freude und tiefster Trauer, niederschmetternder Verzweiflung und überschwänglicher Hoffnung hatten den Mantel durchgesickert und zu einem Pergament verwandelt, auf dem die Jahrzehnte ihre Geschichte niederschrieben. Jahr um Jahr hatte er auch Olga durch die verschneiten Straßen Odessas getragen; einmal angezogen, riss er da plötzlich alle Bänder, die Olga an der zermürbenden Gegenwart festhielten, und ihr eröffnete sich eine völlig neue Welt voller Geborgenheit, in der sie Schutz gegen alle und alles finden konnte. Schön war es in ihrem Pelzmantel, warm wie ein Zuhause, in dem man jederzeit zurückkehren konnte, fühlte er sich an. Jedes Mal, wenn es ihr kalt und bange ums Herz wurde, wärmte sie sich an seiner Feuerstätte des kollektiven Erinnerungsgedächtnisses auf. „Olja, Oletschka!“, rief sie aus dem Pelzmantel ihre Oma, die sie morgens mit dem süßen Duft von frisch gebackenen Blini und heißem Lindentee weckte. „Olenka, du, meine Liebe!“, sprach ihre Jugendliebe zu ihr, wenn sie ihr Gesicht im dicken Pelzmantel verkroch. Und wenn sie ihre Hand tief in die Tasche steckte, konnte Olga da noch immer einen vergessenen „Tschaika“ Bonbon finden.
Nach Odessa war Olga nach Sotschi gegangen, wo sie sich als Zimmermädchen in einem 4-Sterne-Hotel abrackerte und ein bisschen Geld zur Seite legen konnte. Olga träumte nicht, sie war näher denn je an der Realität, bis sie an einem Nachmittag ein unerwarteter Anruf erschütterte: es war ihre Jugendliebe Volodja. Seit über 10 Jahren arbeitete er schon unermüdlich in Wien, auf einer Baustelle – ein Mann mit sicherem Einkommen und guten Absichten. Wegen ihrer großen Jugendliebe kehrte Olga allem den Rücken zu und kam nach Wien. Von allem konnte sie sich trennen, nur den Pelzmantel wollte sie nicht aufgeben. In Wien würden sie aber die Tierschützer schon beim ersten Schritt draußen mit rohen Eiern bewerfen und als Tiermörderin anprangern, sie, die noch nie jemandem was Schlimmes angetan hatte, warnte sie Volodja. Daran hatte Olga noch nie gedacht, sie hatte noch nie die Zeit gehabt, an sich selbst zu denken und in der Menschenwelt zurechtzukommen, die der Tierwelt sehr ähnelte, geschweige an die Tiere.
Nur ungern zog sie langsam, mit zitternden Fingern ihren warmen Pelzmantel aus und tauschte ihn gegen die westlichen Werte um, die nach Freiheit schmeckten. Nur mit einem dünnen grünen Pullover angezogen, betrat sie zögernden Schrittes den Kursraum, wo ihr Integrationskurs stattfinden sollte. Der warme Pelzmantel, auf dem die Geschichten der Jahrzehnte geprägt wurden und somit auch ihr bisheriger Lebenspfad Platz fand, fehlte ihr. Ganz vorsichtig schlich sie sich nach vorne, setzte sich auf die erste Bank, senkte ihren Blick und blätterte das Kursbuch um. Auf der ersten Seite oben stand fettgedruckt: „WILLKOMMEN! Ich heiße Olga. Ich bin Verkäuferin.“ Eine einzige, große, brennende und wie ein Gebet schwere Träne löste sich von ihrem Augenwinkel und rollte ihre Wange hinunter. Olga träumte.
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