Es war gegen 19 Uhr. Ein zauberhafter Märzabend, Schneeflocken schwenkten ungeniert ihre Röckchen herum, ein eiskalter Windzug trug sie in einem Wirbelsturm hoch, brachte sie bald wieder aus der Reihe und spuckte sie ins blendend weiße Schneechaos hinein, wo sie – völlig verloren vor dem Hintergrund des alles widerspiegelnden Weißes, innerlich durchwühlt, ihre Krönchen aufrichteten. Eine Sekunde, zwei, drei… Mit einem erneuten Schwung traten sie wieder in die Reihe. Man sagt, man braucht nicht länger als vier Sekunden, um sich ein allererstes Bild von jemandem ausmalen zu können. Die vierte Sekunde fehlte also nur noch, die einen echt hätte machen können, und das war das Geheimnis aller Schneeflocken.
Auch mich trug der Wind mit meinem weißen Rock, der in dem Augenblick einem Fallschirm ähnelte, Richtung Café Engländer. Widerstandlos ließ ich mich dahin verwehen, wo zu der Stunde eine Geburtstagsparty stattfand und landete bald im Schneesturm safe am Tatort selbst.
Als ich das Geburtstagskind am 1. März 2018 erstmals traf und kennenlernte, wollte es ursprünglich gar nicht glauben, dass es mich gab. Es lag wahrscheinlich genau daran, warum ich – die Unbekannte –eingeladen wurde – um diesen Irrglauben zu zerstreuen oder, wenn nicht, mich endlich einmal in Luft aufzulösen, einmal für allemal. Auch wenn ich nie das Wort „Türkis“ – seine Lieblingsfarbe (Farbton Pantone 7709) – erwähnt hatte, hielt es mich für ein ÖVP-Phantom, für ein Fake, das da war, um ihm das Leben schwer zu machen, das auch sowieso nur an der Oberfläche leicht zu sein schien, und wenn sich das Geburtstagskind was wirklich wünschte, dann – es unbedingt leicht zu haben.
Geboren am ersten Tag von März – dem Monat, der nicht zufällig schon zwei seiner Buchstaben in seinem Namens hinterlassen hatte –, hatte sich das Geburtstagskind das Übliche – „nackte Tänzerin“ – zu seinem Geburtstag gewünscht, wie ich später schon am Tisch im „Engländer“ erfahren durfte. Da war mein dickes und wissenschaftlich ausgerichtetes Buch, das ich ihm mit einer Widmung dazu schenkte, offensichtlich fehl am Platz. Hm. Zumindest war es eine echte Widmung von einer echten Person, und keinem ÖVP-Phantom, dachte ich mir.
Erst an jenem ersten März, spätestens als ich dem Geburtstagskind die Marteniza um das Handgelenk anlegte, leuchtet es ihm ein: „Echt! Sie ist echt!“ Diese Erkenntnis schlich sich mit der Lichtgeschwindigkeit hindurch und löste sich genauso schnell wieder auf. Man geht ja immer leichter mit erfundenen Personen um als mit echten, und – wohlgemerkt! – das Geburtstagskind wollte es leicht haben.
„Verbündete?“, flüsterte ich zu, als ich ihm meine Hand zum Gruß reichte. „Verbündete!“, erwiderte das Geburtstagskind brav und blitzschnell, ohne viel darüber nachzudenken. (Es ist wissenschaftlich nachgewiesen, dass Nachdenken ja nur Kopfweh zur Folge hat, und das Geburtstagskind war solcher simplen, äußert brauchbaren und manchmal sogar lebensrettenden Ansätze kundig, seit dem frühen Kindesalter schon oder andersrum: seit es sich selbstständig unter dem Tisch aufrichten konnte.)
Ein saftes Zugehörigkeitsgefühl zog sich da hindurch, den ganzen Abend lang, dort, an jenem Tisch unter all den herrlich beruhigend summenden Stimmen der Gäste im „Engländer“. Da saß ich, vor den fröhlich schwingenden Tonlagen trunken, hörte hinein, und sie nahmen mich in ihren Bann gefangen.
Ich verabschiedete mich als Еrste und ging, bevor die vierte Sekunde anschlug. Das war an meinem dreizehnten Tag in Wien, wo ich zu dem Zeitpunkt alles in allem nur zwei Personen kannte. Seit jenem ersten März bin ich jedoch auf einmal sehr abergläubisch geworden, ich zähle immer bis dreizehn, bevor ich zu Geburtstagspartys gehe, und erst wenn die Rechnung stimmt, sage ich zu. Denn am dreizehnten Tag werden alle Kunstfiguren lebendig und echt. Wohlgemerkt.
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