Als sie vor 22 Jahren kurz nach Christi auf die Welt kam, wollte es wohl keiner glauben. Erst im Januar sollte sie die Welt erblicken, und alle ausnahmsweise waren es sich einig, dass es noch ein Junge sein werde. Die Tage danach hatten wir viel Zeit füreinander – sie und ich –, da es nicht mal dem Vater erlaubt wurde, das eigene Kind zu sehen. Regeln.
Sie hatte es eilig. Ich hatte es eilig. Mädchen müssen es eilig haben, dachte ich mir. Immer allen voran sein, immer schneller rennen, besser vorbereitet sein, um eine Chance im Leben zu haben, in dem immer Jungs die privilegierten waren.
An ihrem ersten Geburtstag hatte sie schon die wesentlichste Lektion gelernt: nie runterfallen, wenn schon, dann schnell sich wieder aufrichten und weitermachen. Sie stand mit beiden Füßen im eisigen Schnee fest, mit ihren ersten kastanienbraunen Winterschuhen an, ohne dass sie ein einziges Mal runterfiel. Stand fest am Boden.
Mit 5 wurde sie eingeschult, mit 17 startete sie das Studium an der TU Wien. Spätestens dann hörte ich mit meinem Wahn auf. Ich hörte auf einmal auf und entschuldigte mich bei ihr für alle „Noch einmal!“, „Von neuem!“, „Sei fehlerlos!“, „Sei immer schneller!“. Ein unbekannter Fremder, genannt Leben, hatte mir die Zeit mit ihr gestohlen. Alles Versprochene und nicht Erfüllte war unwiederbringlich verloren und konnte nicht mehr nachgeholt werden.
Gestern Abend fiel mir da plötzlich ein (ob es an meinen schlechten Mathefähigkeiten lag, am Irisch Whisky oder an was anderem?), dass es gar nicht schlecht wäre, wenn ihr Bruder den Gang seines Lebens etwas verlangsamen könnte, sodass die beiden sich in einem und demselben Lebensjahr ihrer Leben kurz mal treffen. Eine schöne Vorstellung: Bruder wartet auf seine Schwester, damit sie sich auf gleicher Augenhöhe auf der Lebenslinie mal begegnen können. Das wäre eine Begegnung!
Hätte ich auch nicht wissen können, dass die Zeit von vor 2 Jahren, als ich 2 Monate im Studentenheim bei ihr verbringen musste, da sie mit Krücken herumlaufen musste, die schönste der letzten paar Jahre sein wird. Es ist die bedingungslose Aufrichtigkeit, die Menschen miteinander verbindet. Und wenn ich ihr sage, ich vermisse sie, dann vermisse ich sie, und wenn ich ihr immer wieder wiederhole, dass ich sie liebe, liebe ich sie, und wenn ich ihr ab und zu zeige, ich hätte sie gern in meiner Nähe, dann hätte ich sie gerne bei mir. Sie weiß, dass es echt ist, und ich ebenso.
Seid mir bitte also nicht böse, wenn ich alle Geschenke ablehne, viel zu viel habe ich von allem. Da braucht man kein Verständnis, nur Akzeptanz von dem, was ist. Das schönste Geschenk habe ich schon vor 22 Jahren bekommen. Etwas Schöneres kann ich mir nicht wünschen.
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