Vom 16. bis is 21 Juni hatte das Wiener Publikum die Chance, nach der schweren Zeit des Lockdowns AKTIONSTHEATER ENSEMBLE – das Theater, das berührt! – in seiner schon lange erwarteten Uraufführung LONELY BALLADS EINS und ZWEI im WERK X in Wien zu sehen und somit seine Einsamkeit mit der der Akteur*innen in ihrem faszinierenden Spiel zu teilen.
Ab 15. September startet nun die Theaterkompanie in Koproduktion mit Spielboden Dornbirn und Kulturservice der Landeshauptstadt Bregenz in die neue Herbstsaison.
Kann die Einsamkeit gemessen werden? Und wenn ja, was dient als Maß für sie? Wie bestimmt man, wer einsam, und wer noch einsamer ist? Kann die Einsamkeit gesteigert oder irgendwie mal durchbrochen, gar verjagt werden, ausgelacht werden, indem man Geschichten aneinanderreiht, die durch das subjektive Erlebnis und das Thematisieren der Einsamkeit Menschen näher aneinander bringen? Der Ausgangspunkt ist immer der Vergleich, nur im Vergleich mit den Anderen sind Quantifizierung und Messbarkeit dieses sonst als subjektives Empfinden erlebten Zustands möglich. Dies möchte uns wohl aktionstheater ensemble anhand vierer Geschichten über die Einsamkeit aufzeigen, ohne fertige Antworten anzubieten. Vier, das Publikum mit ihrem fulminanten Spiel berührende, zerfetzte von Einsamkeit Akteur*innen und eine von Einsamkeit erstarrte Bühne, die danach schreit, zum Leben geweckt zu werden, bilden die Kulisse der Neuaufführung des aktionstheaters ensemble „Lonely Ballads“.
Nicht Nietzsches Einsamkeit, in der etwas Befreiendes erkannt wird, begegnet uns von der Bühne, auf der aktionstheater ensemble sein rührendes Narrativ mit hoher künstlerischer Präzision und ergreifender Leidenschaft präsentiert. Nein. Es ist jene Form der Einsamkeit, die sich potenziert, um das Vielfache gesteigert wird, sich windet, sich dreht, bohrt in die Tiefe, bis am Ende nach diesem unebenbürtigen Zweikampf ein zermürbtes, geschwächtes und entmächtigtes, fast entpersonalisiertes Selbst übrigbleibt.
„Ich will auch wahrgenommen werden”
Wie immer halten uns auch dieses Mal die großartigen Akteur*innen, nach denen wir uns schon so lange gesehnt haben, einen Spiegel vor: Kommt uns das Narrativ nicht irgendwie bekannt vor? Können wir uns darin nicht mal selber erkennen? Verständnis dafür gewinnen, wie wir sind und wie wir noch sein können? Hat uns die Entfremdung in der Zeit der Pandemie durchsichtig gemacht? Klein und anonym? In dem Maße, dass das Ich in seinem Selbstwert zutiefst erschüttert zu sein schien, und nun nach Selbstbestätigung schreit?
Das komische, eitle und zugleich rein menschliche Bedürfnis, unbedingt gesehen, wahrgenommen zu werden, zugespitzt bis aufs Äußerste, treibt Isabella, die als Erste die Bühne betritt, dazu, sich an alles, was sie je gut konnte, zu erinnern – an alle Talente, Erfolge und Auszeichnungen in ihrem Leben: Schifahren, Ballett, Tanzen, Schwimmen…, als ob sie allen klar machen wollte, dass es sie gibt, sie noch immer da ist! „Tanzen ist mir so wichtig, weil alles so frei wird“, fügt sie hinzu. Nicht nur die Unfreiheit, auch die Traurigkeit, von der die als unerträglich lange empfundene Lockdown-Zeit durchtränkt war, kommt deutlich artikuliert zum Vorschein: „An der Traurigkeit mag ich, dass es so traurig ist.“ Traurig klingt auch Isabellas Bekenntnis, dass gerade die vom Staat ausgezahlten Corona-Hilfszahlungen endlich ein paar Hunderte mehr auf ihr Konto gebracht hätten.
Das naive Streben nach Anerkennung („Ich will auch wahrgenommen werden!“), das Problem mit den Abschiebungen, das sehr bald in Vergessenheit geriet, und die Abneigung gegen Schwarz („Schwarz geht gar nicht!“) gehen in die Geschichte über den einsamen Peter von Media Markt hinüber, mit dem Isabella ihre Einsamkeit zuerst über die Telefonleitung geteilt haben will. „You took all my love and disappear…“, greifen die seitlich auf der Bühne zu sehenden Musiker*innen Isabellas Erzählung auf. Nicht nur der Geist gerät ins Stocken, auch die Körperbewegungen sind verkrampft, ohne jedes Schamgefühl, ähneln dem asozialen Verhalten von Gefangenen, die schon lange Zeit in Isolation verbracht haben.
„Well, I’m not the man, you need… “
Die Probleme mit der Ex-Freundin, die er bei einer erneuten Begegnung kaum erkennen konnte, nicht nur, weil sie zugenommen haben soll – sie habe ja „ihre Ausstrahlung verloren“ –, diskutiert Thomas mit bitterem Humor, verstrickt sich in aller Schärfe in die Banalitäten des Alltags, und plädiert gleichzeitig für „ein Grundeinkommen für arme Leute, für Künstler“. Seine enorme Gereiztheit, provoziert von dem unbändigen Drang zur scharfen Kritik und gnadenloser Auseinandersetzung mit Alltäglichkeiten, lässt er dann im Tanz frei, der ihn durch die Bühne wie ein Hurrikan treibt; sie hallt in den höchste Anspannung symbolisierenden Tanzbewegungen, die Schläge nachahmen, wider.
Trotz aller Versuche, Bettinas „Kochverhalten zu optimieren“ und ihr seine Unterstützung zu bezeugen – er hat sich ja sogar die Fingernägel lackiert, um ihr zu zeigen: „Bettina, ich stehe auf deiner Seite!“ –, wird er von ihr als „Küchennazzi“ gebrandmarkt. Nur in seiner Männerrunde begegnet man seinem Wunsch, ein Kind zu haben, mit Verständnis, denn er, im Unterschied zu Bettina, bei der der Feminismus in der Dichotomie zwischen Maskulinität und Feminität wohl zu einer seltsamen Ausprägung abgeartet haben soll, bereit wäre, seine Karriere aufzugeben und ein Kind großzuziehen. Statt eine Annäherung der Polaritäten von Feminität und Maskulinität feiert hier der Feminismus mit dem totalen Kommunikationsbruch und Mangel von Verständnis wohl sein Versagen: „Ich finde einfach keinen Ausweg aus der Misere“, stellt Thomas, zutiefst verzweifelt, fest.Die wunderbaren Musiker*innen, die die Bühnen-Akteur*innen umgeben, als ob sie sie in Schutz nehmen wollten und nun in einer erweiterten Besetzung viel intensiverer erlebt werden können, setzen Thomas in der Beichte-Form vorgetragene Geschichte da fort, wo seine Worte verstummen: „Well, I’m not the man, you need…“
„I Wanna Be Happy (Until I Die)“
Durch die Rhythmen der Musik wird Tamaras Geschichte eingeleitet, während sie selbst mit einem übertrieben fröhlichen Gesichtsausdruck die Bühne betritt. Ironisch-schalkhaft wirkt die Szene, in der sie von ihren Begegnungen mit dem Österreichischen Deutsch erzählt, bei denen die Wichtigtuerei der sie immer wieder auf die richtige Bezeichnung hinweisenden Kellner hinter derer „unechten Freundlichkeit“ hervorblickte: Karottentorte, nicht Möhrenkuchen, korrigierten sie sie, Staubzucker, und nicht Puderzucker! „Minderwertigkeitskomplexe gegenüber den Deutschen“, fasst Tamara zusammen – ein Thema, das, wie bekannt, im Laufe der Jahrhunderte schon fast mythologisiert worden ist.
Nein, dem Publikum will Tamara nicht unbedingt gefallen, um wohl mit dieser Replik das Klischee zu brechen und die Anwesenden dazu zu veranlassen, in Frage zu stellen, ob das Sich-Anpassen an die Erwartungen der Anderen – diese Art von gelebtem Konformismus – immer die Basis für das Angenommensein schaffen soll. Dass die Psychotherapie nicht von den Steuern abgesetzt wird, sie den Geruch der Kindheit – und vermutlich auch diese Form der Geborgenheit – vermisst oder dass der Verstand aussetzt, wenn sie emotional wird, sowie der Gedanke an den Tod bilden die Kulisse von Erlebnissen, die von der Verstörtheit der bis in den Wahnsinn getriebenen Vereinsamung geprägt sind.
„The future is already gone…“
Das Albern-Infantile blickt durch Benjamis Geschichte und sein großartiges, witzig-hinreißendes Spiel hervor, das ihn als Bühnen-Akteur sofort in die 1. Sternengröße einordnet! Es werden Kindheitserinnerungen eingeblendet, die Momente, wenn er bei jedem Geburtstag die U-Bahn-Stationen und dann die Bezirke sagen sollte und dafür das Lob seiner Nächsten genoss – der Zustand des Kindseins wird wachgerufen, von dem sich sein Protagonist vermutlich nie emanzipieren konnte. Mit seiner „Glockenstimme“ hätte er ja auch zu den Sängerknaben gehen können, fügt er nachdenklich hinzu.
Bitteren Beigeschmack hinterlässt sein bewegendes Selbstgespräch, das das Publikum oft zum Lachen bringt, und das Zugeständnis, dass, wenn er auf etwas stolz sein sollte, dann auf die Straßenbahnstationen. Das durch die Einsamkeit hervorgerufene Interesse am Malen, der Stolz auf die selbst gemalten Bilder, – Apfelbaum I und Apfelbaum II – , die Benjamins klischeehaftes Statement veranschaulichen, dass bei ihm – wie wohl bei jedem kommerziell gut platzierten „Künstler“ –, „alles blühen soll“, die leere Hoffnung, dass man doch irgendwann einmal Besuch bekommt, die Worte seiner Oma, dass die Fleißigen Erfolg im Leben haben – dieses bunte Potpourri an Erlebnissen mündet in den Höhepunkt seines Narratives: „Ja, kommt einmal!!!“ Der einsame Schrei geht wie eine Woge durch den stillen Saal hindurch. Bühne und Publikum, durch die Kraft des Unausgesprochenen vereint, werden eins. Das Bild einer aussichtslosen Zukunft wird von der einsetzenden musikalischen Begleitung weitergetragen: „And I know, the future is already gone…“
Die endlich stattgefundene, lang ersehnte Begegnung mit aktionstheater ensemble, das auch dieses Mal mit seiner Neuaufführung „Lonely Ballads“ ein fehlerloses Gespür für das Kranke und gnadenlos Zehrende in der Gesellschaft demonstriert hat – trotz aller durch die Pandemie bisher verursachten Hindernisse – lässt bei uns, dem Publikum allerdings einen Funken Hoffnung aufflimmern: Solange wir mit großen Künstlern, wie der Theaterkompanie aktionstheater ensemble in Berührung kommen können, deren Herz ganz für die Bühne und ihr Publikum schlägt, ist die Kunst und somit auch unsere Zukunftsvision gerettet. Und irgendwo da, zwischen der magisch anziehenden Bühne, dem bunt vorgetragenen Narrativ, dem ergreifenden Spiel, der verstörten Welt draußen und dеn gefesselten Blicken des Publikums liegen alle Antworten. Dort, in diesem geteilten verdichteten Freiraum werden nämlich neue Zukunftsvisionen geboren.
Großes Lob gilt auch an die Musiker*innen! Großartige, gefühlsbetonte Musik, und gedankenschwangere, kurz formulierte, prägnante Songtexte, die einem unter die Haut gehen! Doch niemals war die musikalische Begleitung – diese feine Symbiose zwischen Ton und Songtext – auf der einen Seite, und Narrativ und Spiel, auf der anderen, dermaßen intensiv und eindrucksvoll wahrzunehmen, in der amorphen Form eines sich völlig ergänzenden und gegenseitig unterstützenden Ineinander-Fließens!
Für Euch auf den Spuren der Einsamkeit –
Eure Neli Peycheva
„Lonely Ballads
Termine: Mi. 15.9. und Do. 16.9 um 20 Uhr am Spielboden Dornbirn
Text: Martin Gruber https://wiener-online.at/2018/11/14/kunst-ist-genau-das-refugium-wo-es-darum-geht-subversiv-sein-zu-koennen-regisseur-martin-gruber-im-interview/ und aktionstheater ensemble
Dramaturgie: Martin Ojster
Regieassistenz: Laura Loacker
Medienkontakte: Gerhard Breitwieser
aktionstheater ensemble Songbook:
https://store.noiseappeal.com/shop/music/vinyl/aktionstheater-ensemble-lonely-ballads/
Komposition: Nadine Abado, Andreas Dauböck, Kristian Musser
Mit: Nadine Abado, Andreas Dauböck, Simon Gramberger, Kristian Musser, Joachim Rigler, Simon Scharinger
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https://wiener-online.at/2020/02/24/was-macht-dich-heil/https://wiener-online.at/2018/06/17/der-mann-zerstoert-verletzt-echt-er/
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https://nelisworld.com/2020/10/25/die-tragik-der-fallhoehe/
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Gratulation großartige Artikel wie imma .
Dankeschön! Aktionstheater Ensemble ist eine Erscheinung und muss erlebt und gefühlt werden, mit allen Sinnen!