Über den Schmerz
Wenn man mich fragt, wie sich der Schmerz anfühlt, könnte ich unendlich viel erzählen. Er ist allgegenwärtig. In den Nächten, wenn ich träume, dass sie nur für zwei Minuten gegangen war – und dann wieder aufwachte. Wenn ich höre, wie sie mich ruft, damit ich sie von jenem Ort abhole, an dem ich sie zurückgelassen habe. Wenn ich in meinen Träumen mit ihr reise, immer auf der Suche nach einem Haus mit schöner Aussicht für sie. Wenn ich ihr Paris zeige, weil sie Französisch sprach, französische Filme und Chansons liebte – eine Reise, die ich so sehr mit ihr machen wollte.
Wenn ich in der Augustinerkirche sitze und ihr von meinem Leben ohne sie erzähle. Wenn mich mitten in einer Menschenmenge plötzlich Tränen überwältigen. Wenn ich ihre Stimme höre, wie sie immer wieder Scarlett O’Hara zitierte: „Morgen ist auch ein neuer Tag. Morgen entscheide ich.“ Wenn mir plötzlich alles so oberflächlich erscheint.
Wenn ich abends durch den Prater gehe und sie nicht mehr anrufen kann für ein langes Gespräch. Wenn ich sie einfach anrufen will – weil mir etwas Gutes oder Schlechtes passiert ist. Wenn ich vor einem Hindernis stehe und ihren Rat höre: „Das Leben ist sehr kurz. Wenn du kannst, gleite an die Oberfläche, denke nicht zu viel nach.“ Wenn ich nach oben blicke und nach ihr suche – in einem kleinen, zwitschernden Vogel – und mit ihm beginne zu sprechen.
Wenn mich Facebook-Erinnerungen unvermittelt erschüttern: ihre Grüße zum Frühling, ihr Geburtstagswunsch, ein Lied, das sie geteilt hat und das ich damals übersehen hatte. Wenn ich ihre Musik höre. Oder wenn, so wie heute Abend, eine schlichte Bewegung alles zurückbringt: Ich schwenke die Tasche hin und her – und plötzlich bin ich wieder sieben Jahre alt, in Varna, am Schwarzen Meer. Urlaub, aber nicht ganz, denn meine Schwester musste operiert werden. Ich warte mit Mama vor der Klinik. Sie hat eine Sommerstrohtasche dabei. Ich schwenke sie in der Hitze des Hochsommers hin und her, und dann fällt ihre Zigarettenschachtel auf den Boden.
Letzte Woche habe ich von einem Kinderbuch erfahren, in dem ein Mädchen durch ein Telefon im Baum mit seiner verstorbenen Freundin spricht. Vielleicht wäre das auch für mich eine Möglichkeit – eine Art, weiter mit ihr zu telefonieren, als wäre sie noch da.
Ich glaube nicht mehr daran, dass Schmerz überwunden werden kann. Nicht, dass er geheilt werden muss. Mehr denn je verstehe ich Mama – ihre Traurigkeit, mit der sie ihren geliebten Bruder und ihre Mutter vermisste. Sie wollte ihn retten, nahm einen Kredit für die teure Operation auf, zu der es nie kam – weil er nach drei Monaten nicht mehr lebte. Jahre später stellte sich heraus, dass sie den Kredit nicht hätte zurückzahlen können. Sie schämte sich bis ans Lebensende. Wir Menschen sind grausame Richter über unsere Nächsten, als wären wir selbst fehlerlos.
Ich habe begonnen, meine Erinnerungen mit ihr aufzuschreiben – aus Angst, sie eines Tages zu vergessen. Man kann den Schmerz nicht besiegen, aber man kann sich mit ihm anfreunden. Und wenn mir alles zu grell, zu schrill, zu kitschig, zu künstlich vorkommt, dann aus gutem Grund: Es zählt nur die Essenz. Diese Erkenntnis macht mein Dasein nicht leichter, nicht fröhlicher – aber hoffentlich echter.
Ich habe keine Illusionen mehr von ewigem Leben. Ich lese über den Tod, um das Leben zu verstehen. Um jene Traurigkeit zu verstehen, die den Hals zuschnürt.
Meiner Tochter habe ich gesagt: „Meine Liebe, ab jetzt teile ich mit dir all die dummen und nicht so dummen Dinge meines Lebens, denn ich kann sie nicht mehr anrufen.“ Und sie versteht. Was sie noch nicht versteht, ist, dass der Schmerz das Einzige ist, das bleibt. Er erwacht immer wieder – durch eine Geste, ein Wort, eine Stimmung.
Man sagt, wir tragen zu fünfzig Prozent unsere Eltern in uns. Ich will das glauben. Ich suche sie – in mir und um mich. Und ich werde mich nicht entschuldigen für meine Traurigkeit.
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