Als ich gestern in Salzburg war, wo die vorweihnachtliche Stimmung trotz der herrschenden Gas-Krise, des Ukraine-Krieges und der steigenden Inflation in vollem Maße, zu voller Pracht zu spüren war, ist da auf einmal eine Frage aufgetaucht: Wie ist das Gefühl, in diesem Land geboren zu sein? Und nicht nur geboren, sondern auch mit all den geschichteträchtigen Entwicklungen, die die vorigen Jahrhunderte das Land geprägt und geformt haben, verbunden zu sein?
Von dem Moment an stauten sich eine Unmenge Fragen auf, und jede drängte sich nach vorne und pochte mit seiner Legitimität, gestellt zu werden. Wie wäre es, wenn Bulgarien nicht 500 Jahre Teil vom Osmanischen Reich gewesen wäre, sondern ein paar Jahrzehnte zu Österreich-Ungarn gehört hätte? Wie wäre es, wenn der 1. Weltkrieg, in dem Bulgarien auf der Seite von Österreich-Ungarn, Deutschlang und Italien gekämpft hatte, nicht ausgebrochen wäre?
Auch mein Urgroßvater hat am 1. Weltkrieg teilgenommen. Die Erzählungen meiner Oma von ihm waren immer von einer tiefen Traurigkeit durchtränkt – Kindheitserinnerungen, die sie lebendig hielt, wie die Flamme einer Kerze, auf der man sich mal aufwärmen kann: Wie er krank aus dem Krieg zurückgekommen ist, da er sich tagelang davor in einem Sumpf verstecken musste, um nicht getötet zu werden. Wie er sie auf seinen Schoß nahm und ihr ins Ohr flüsterte: „Du, mein hübsches braves Mädchen!“ Und wie er kurz danach an der Lungenentzündung verstorben ist.
Was wäre es, wenn man nicht immer wieder versucht hätte, dieses Bulgarien zu zerfetzen? Und was, was muss passieren, damit das Volk aus seiner Passivität gerissen wird und endlich aufhört mit den Versuchen, eine glamouröse Vergangenheit (von vor über 6 Jh.? von vor über 40 J.?) wieder zu beleben, sondern in der Gegenwart verweilt und alles darauf setzt, das Beste daraus für das Jetzt zu machen?
Bei der älteren Generation ist in der Zeit des – fast – aufgebauten Kommunismus so eine Gehirnwäsche stattgefunden – eine Schrumpfung der Persönlichkeit -, die leider auch heute noch zum Vorschein kommt, in einer ziemlich deutlich wahrzunehmenden Form: als Feigheit. Als Demenz. Auf der Lesung von vor 2 Tagen mit Georgi Gospodinov hat eine der Anwesenden das Wort ergriffen und appellierte an den Autor, ein gutes Wort für die Zeit, in der die kommunistische Partei regiert hatte, einzulegen. Für sie sei diese Zeitepoche der Geschichte Bulgariens mit viel Positivem verbunden. „Ich habe mir ein „Balkantsche“-Fahrrad gekauft! Nur es gab keine andere Auswahl, das war’s“, lachte ihr Gospodinov zu. Meine Schwester hatte übrigens auch ein „Balkantsche“ bekommen. Man musste sich vorher im Geschäft anmelden und lange und geduldig warten, bis man dran war und das Fahrrad endlich geliefert wurde. Ich werde es nie vergessen, wie stolz wir dann das hellblaue federleichte Traum-Ding auf zwei Rädern durch die ganze Stadt geschoben haben, damit uns ja alle sehen konnten. Das „Balkantsche“ habe ich dann von meiner Schwester übernommen, es blieb „unser“ Fahrrad – das einzige Fahrrad unserer Kindheit.
Ein Volk, das nicht aus den Fehlern der Vergangenheit lernt, dem es lieber ist, zu vergessen und in ein verschwommenes Gebilde ausschließlich das im Gedächtnis zu rekonstruieren, was ihm ein Gefühl der Sicherheit vermittelt. Ist es nicht feige? Und immer wieder das Alte wählt, denn das Alte kennt es schon. Immer wieder die gleiche Regierung. Und immer wieder das alte Klammern an der Vergangenheit. Als ob ihm jem. oder etw. das Rückgrat gebrochen, die Lebenslinie in der Hand gelöscht hatte. An diesem 1. Advent zünde ich, die Nichtgläubige, eine Kerze an: für die Kraft der Persönlichkeit. Daran will ich glauben. An die Menschen.
Eure Neli P
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